Das Tanztreffen der Jugend profitierte bei seiner diesjährigen, internen Ausgabe von der coronabedingten Ausnahmesituation: Erstmals wurden Solist*innen und Duos eingeladen, um selbsterarbeitete Stücke zu zeigen. Darunter auch die drei Berliner Nachwuchstalente Clara Helene Gerhardt, Adama Bance und Klara Liebig (Duo Klaraadma).
Beim Tanztreffen der Jugend (18. bis 25. September 2020) war dieses Jahr vieles anders als sonst. Sanierungsbedingt fand die 7. Ausgabe des Bundeswettbewerbs, der sich an junge Menschen im Alter zwischen 11 und 21 Jahren richtet, nicht am Haus der Berliner Festspiele statt, sondern in den Weddinger Uferstudios. Auch fielen aufgrund der Pandemie und den entsprechenden Hygiene- und Abstandsregularien alle öffentlichen Veranstaltungen weg. Für Christina Schulz, Leiterin der Bundeswettbewerbe, und eine neunköpfige Expertenjury war das eine Gelegenheit, neue Formate auszuprobieren. Erstmals wurden so neben Ensembles, auch Solist*innen und Duos eingeladen. Sie bespielten mit ihren eigenständig und ohne Begleitung erarbeiteten 5- bis 20-Minütern immerhin vier von insgesamt acht Programmpunkten. Zu einem Gefühl der Leere hat das auf der Bühne nicht geführt. Im Gegenteil: Die von sehr persönlichen Erfahrungen mit der aktuellen Situation inspirierten Minimalbesetzungen berührten, auch ohne direkten physischen Kontakt.
Herausforderung zum Tanz
Eine junge Frau, burschikoser Haarschnitt, lässiges Hemd und hochgekrempelte Hose, kommt wortwörtlich nicht von der Stelle. Wie festgeklebt sitzt sie auf einem Stuhl, den sie eigens für ihr Solo „Grenzgänger – ein Versuch“ mit nach Berlin zum 7. Tanztreffen der Jugend gebracht hat. Die Handflächen fest auf die Knie gepresst, wollen die Füße entkommen, aber können es nicht. Ein Körper im Widerstreit.
Clara Helene Gerhardt, von der hier die Rede ist, war sieben Jahre Mitglied des Tanztheaterensembles Lysistrate in Schwerin. Seit 2019 studiert sie Theater- und Filmwissenschaft an der Freien Universität zu Berlin. Während des Lockdowns online, von der mütterlichen Wohnung ihres Heimatortes aus. Ihrem starken Bewegungswunsch machte sie in dieser räumlich und emotional beengenden Zeit im leerstehenden Gebäude des Schweriner Goethe-Gymnasiums Luft, wo sonst auch Lysistrate beheimatet ist.
Ohne Spiegel und Outside Eye setzt Gerhardt ihre Fragen zum Thema Grenzen („verschieben, überschreiten, setzen, die eigenen oder die der Anderen“) über Improvisationen in Bewegungssequenzen um. „Ich habe zum ersten Mal alleine gearbeitet und das Stück ist sehr persönlich, eine Art Selbststudie. Daher war es mir wichtig, mich nicht kontrolliert zu fühlen, sondern zu tun, was sich für mich gut anfühlt“, berichtet sie im Interview mit dem tanzschreiber.
Dass Clara Helene Gerhardt einen Weg gefunden hat, sich auf der Bühne in ihrer Haut absolut wohl zu fühlen, ist deutlich spürbar, als sie ihr 20-minütiges Tanztheatersolo vor den anderen Teilnehmer*innen des diesjährigen Tanztreffens der Jugend aufführt. Mit einer irren Präsenz spielt sie symbolisch immer wieder über eine zuvor mit Klebeband markierte Grenz-Linie hinweg und durchbricht die vierte Wand als hätte sie diese bekannte Theater-Methode gerade neu erfunden. Sie flirtet mit den Zuschauenden, kaut laut schmatzend Kaugummi oder rückt ihnen Wasser ausspuckend auf die Pelle – eine Herausforderung zum Tanz, die Lust macht, mit Gerhardt in die Interaktion zu gehen.
Wenn sie hinter hochgezogener Augenbraue lauernd durch ihr Bühnenterritorium streift, um dann in männlich lässiger Pose selbstzufrieden und wie nach getaner Arbeit auf einem leeren Stuhl Platz zu nehmen, fühlt man sich unweigerlich und augenzwinkernd an jene stereotypen Filmcowboys erinnert, die irgendwo im Nirgendwo schaukelstuhlquietschend auf ihrer Veranda sitzen, den Hut tief ins Gesicht gezogen und immer bereit, im Ernstfall ihre Pistole zu ziehen. Zu Clara Helene Gerhardts Waffen gehört vor allen Dingen ihr Kaugummi, dass sie mitunter auch – in Absage an gesellschaftliche Normen – auf die Krepp-Grenzlinie zwischen sich und dem Publikum klebt. In der Schule sei sie schon auch immer eine gewesen, die aneckt, weil sie ihre Meinung äußert. Ganz so mutig wie auf der Bühne sei sie im Alltagsleben dann aber doch nicht. Da wäge sie gut ab, wann was angebracht sei. Ihr Solo würde sie durchaus als Wagnis beschreiben, im Sinne der Überschreitung eigener Grenzen.
Dass Gerhardt ein aufgeweckter und kritischer Geist ist, verraten auch die selbstgeschriebenen Textpassagen, die sie in ihr Stück einfließen lässt. Gleich zu Beginn des Solos, kurz bevor sie auf besagtem Stuhl eine Art Überlebenskampf auf hoher See probt, mal vom Gegenwind in die Lehne gedrückt und dann in akrobatischer Pose und kopfüber mit den Zehenspitzen an die symbolische Reling geklammert, sagt sie mit klarer Sprecherinnenstimme: „Wir sitzen hier alle im selben Boot.“, um dann mit verzerrtem Gesicht „Na, und?!“ zu schreien. Oder wenig später, wenn sie sich scheinbar an Land gerettet hat und sich Körperglieder von sich schleudernd in den Raum wirft, rollend abfängt, um dann bäuchlings mit erhobenen Armen und Beinen auf dem Bühnenboden zu liegen: „Hast Du etwas zu verlieren? – Nein, ich nicht.“ Ein sich mehrere Male wiederholendes und offensiv nach außen getragenes inneres Frage-Antwort-Spiel, dass sie mit jeder neuen Runde unterschiedlich intoniert und wortwörtlich auslotet.
Clara Helene Gerhardt ist eine Grenzgängerin im besten Sinne. Sie verfügt über ein beeindruckendes Darstellungsspektrum und genau deshalb ist ihr zu wünschen, dass sie als solche in der beruflichen Praxis ihren ganz eigenen Weg geht.
||:Lieben, essen, beten, wachsen:||
Pur und wie aus dem Leben gegriffen wirkt das Duo „Why don´t you“ von Adama Bance und Klara Liebig aka Klaraadama, das am zweiten Abend der Duo- und Solo-Präsentationen des diesjährigen Tanztreffen der Jugend zur Aufführung kommt. Nach dem gleichnamigen Songtitel von Cleo Sol, tanzt das Berliner Duo, das 2017 in einem Neuköllner Tanz-Theater-Projekt zusammenfand, eine Art Live-Videoclip, in dem es um die Akzeptanz von Unterschieden geht.
Adama Bance und Klara Liebig referieren mit dem Stück auf ihre ganz persönliche Beziehung. Und man mag es ihnen glauben, denn Cleo Sols Song erschien 2018. Ist einem bekannt, dass Cleo Sol Sängerin der geheimnisumwobenen britischen Band Sault ist, die im Juni dieses Jahres mit einer Vorveröffentlichung des Songs „Untitled (Black is)“ in einer BBC-Radiosendung und im Zuge der Black-Power-Bewegung neue Aufmerksamkeit erfuhr, schreibt sich eine ungeahnte Metaebene in das fließend dahin treibende Tanzstück ein, in dem die beiden, wie Klara Liebig es nennt, auch von „tänzerischen Grenzen“ loslassen.
Klara Liebig kommt ursprünglich aus dem zeitgenössischen Tanz und Adama Bance aus dem Hip Hop und Afro. Am Anfang des so simplen wie vielschichtigen Fünf-Minuten-Kleinods stehen sich die beiden an den Rändern der dunklen Bühne gegenüber, jeweils nur mit einem Spot beleuchtet. „Klara“ … „Adam“ hört man sie sagen. „Warum kommst Du immer zu spät“, wirft Adam Klara auf Französisch vor, weil sie diese Sprache auch im Alltag verbindet. Aber sie streitet es ab und spielt den Ball zurück. Keiner von beiden will sich ändern und doch wollen sie zusammenbleiben. Nach einer kurzen nonverbalen Kommunikation, ein Klatschrhythmus, der irgendwo zwischen Schuhplattler und Bodypercussion schwebt, machen sie einen Schritt aufeinander zu. Der Rhythmus setzt sich im nun einsetzenden Song von Cleo Sol fort.
Geprobt haben Klaraadama auf dem Tempelhofer Feld, auf einem Parkhausdeck am Gleisdreieck und vor einer großen Fensterfront im Regierungsviertel am Hauptbahnhof – ein heißbegehrter Ersatzspiegel für Tänzer*innen in Lockdownzeiten, wie sie im Gespräch mit der Autorin verraten. Ob sie als Liebhaber*innen urbaner Tanzstile auch ohne Corona draußen geprobt hätten, wissen sie nicht. Aber wahrscheinlich wären sie ohne Abstandsauflagen vielmehr ins Akrobatische gegangen, so Liebig, wobei sie jetzt eher darauf geachtet hätten, dass die Energie zwischen ihnen spürbar werde.
An Schwung mangelt es dem charmanten Paar, das keine Kurse nimmt, aber dafür auf All Style Dance Battles geht, jedenfalls nicht. Und wenn sie falsche Glaubenssätze und automatisierte Verhaltensmuster mit kleinen Handgesten auf der Bühne erst abgeworfen haben, gleiten sie manchmal fast so harmonisch übers imaginäre Parkett wie Ginger Rogers und Fred Astaire – nur etwas anders eben und in zufälliger Begleitung von einem Nachtfalter, der für einen kurzen Augenblick Aufmerksamkeiten verschiebt.
Am Ende, als die Musik langsam verlischt, läuft das Duo gemeinsam auf der Stelle wie zwei gut miteinander bekannte oder auch fremde Passanten in einer urbanen Umgebung – „We are one, but not the same“.
Ein fester Tanz- und Probenort, wäre den beiden Jungtalenten für ein flüssiges tänzerisches Fortkommen mehr als zu wünschen. Die prekäre Situation nicht institutionalisierter Tanzschaffender war auch Thema auf dem diesjährigen und normalerweise als öffentliche Podiumsdiskussion geführten Fokus-Gespräch: Manche eingeladenen Künstler*innen fühlten sich zwar geehrt, eine Woche am Bundeswettbewerb Tanztreffen der Jugend teilzunehmen, können sich das wegen des Honorarausfalls aber eigentlich gar nicht leisten, wie eine mit der TanzTangente assoziierte Choreografin berichtete. Ein Aspekt, den es in zukünftigen Ausschreibungen zu beachten gilt, teilte Bundeswettbewerbsleiterin Christina Schulz hoffnungsfroh mit.