„Death is certain“, Ch.: Eva Meyer-Keller, Performance: Kajsa Repotente / Otis Repotente ©Eva Meyer-Keller

Kleine Morde à la carte

Am FELD Theater für junges Publikum werden Erdbeeren zu Protagonist*innen eines Kirschkrimis. „Death is certain“, so der Titel der Performance, führt Eva Meyer-Keller nunmehr seit 18 Jahren national wie international auf. Für die Neuinszenierung am Winterfeldtplatz hat die Choreografin ihr herrlich schwarzhumoriges Handwerk an ihre Tochter Kajsa Repotente weitergegeben.

Die Stimmung am FELD Theater ist munter und familiär. Auf dem Vorplatz des ehemaligen Puppentheaters des Ensembles „Hans Wurst Nachfahren“, an dem seit 2018 unter Leitung von Kinder- und Jugendtheatermacherin Gabi dan Droste, Choreograf Martin Nachbar und Produktionsleiterin Susanne Beyer sparten- und generationenübergreifend aufgeführt wird, spielen Kinder und Erwachsene gerade gemeinsam ein Bewegungsspiel. Als Mitglieder zweier Mannschaften und animiert von Tänzer und Tanzpädagoge Gabriel Galindez Cruz tanzen sie jeweils in Duos solange um ein Tuch, bis die Trommelmusik aufhört und eine*r der beiden Mitspieler*innen zugreift. Nun heißt es, sich jenseits der gegnerischen Linie schnellstmöglich aus dem Staub zu machen – die Wartezeit bis zum Beginn der Performance „Death is certain“ vergeht so auch für passiv Beteiligte wie im Flug.

Einige Zeit später werden wir von der Kassendame hereingebeten. Einzeln oder im Familienverbund bringt uns die zum Scherzen aufgelegte Frau in die erste Etage des sonnengelben Gebäudes. Alle zwanzig Gäste – Coronabedingungen auch hier – werden gebeten einen Mund- und Nasenschutz zu tragen. Damit die Performerin, die den ganzen Raum nutze, frei agieren könne. 

Zwischen Küchenstudio, Laboratorium und Tatort

Die 14-jährige Kajsa Repotente und ihre Mutter, Choreografin Eva Meyer-Keller, erwarten uns bereits. In einander zugewandter Pose stehen sie in einem hellen und weiß gemalerten Raum, der sich im Laufe der Performance in ein präzise arrangiertes Schlachtfeld verwandeln wird. Die benötigten Zutaten für das insgesamt 36 Miniatur-Gewalt-Delikte umfassende experimentelle und doch bis ins Kleinste durchkomponierte bittersüße Kunstspektakel stehen sorgsam geordnet auf einem Tisch. Neben verschiedenen Alltagsgegenständen gehören dazu auch 36 (wehrlose) Erdbeeren, die der in elegantes Schwarz gekleideten Repotente, inspiriert von filmischen und literarischen Vorlagen, innerhalb von 40 Minuten auf verschiedene Weisen symbolisch zum Opfer fallen werden – der Mensch ist dem Menschen kulturgeschichtlich ein erfinderischer Wolf! 

Als Stellvertreterinnen für die menschliche Spezies waren – laut Programmplan – eigentlich Kirschen angekündigt. Das ist ideal, weil sie zarte Haut, Fleisch und Knochen versinnbildlichen. Saisonbedingt seien sie jedoch leider aus, wie Meyer-Keller auf Nachfrage einer Zuschauerin trocken bemerkt. 

Also müssen stattdessen Erdbeeren verkörpern, und bluten: Nummer Eins erhängt sich mit fingerschnipsender Unterstützung von Repotente am zahnseidenen Faden. Leblos baumelt das „tote“ Obst von einem in der Mitte des Raumes aufgestellten Tisch über dem imaginären Abgrund. Zielsicher und in Serie werden an diesem Hauptschauplatz der fruchtfleischigen Todesqualen weitere Protagonistinnen um die Ecke gebracht: auf dem Streichholzscheiterhaufen verbrannt, per Bügeleisen versengt, mit Haarklammern gevierteilt oder auch in vodoozauberischer Fernwirkung über Stecknadeln in einem Knetdouble symbolisch malträtiert. Spätestens als Repotente sich genüsslich eine Erdbeere einverleibt und starren Blickes zuschaut, wie deren, zuvor mit Spiritus angerichtete, Verwandte langsam in Flammen aufgeht, ist sie in ihre Rolle der gefühlslosen Killerin – irgendwo zwischen Harold (aus „Harold & Maude“) und James Bond-Bösewicht*in – hineingewachsen.  

Von der flüchtigen zur bleibenden Kunst

Immer wieder erweitert Meyer-Keller diese vordergründig harmlose Variante choreografierter Aktionskunst auch in den umliegenden Raum (und Assoziationen zu Marina Abramović liegen hier aus einer Erwachsenenperspektive nicht fern). Mit regelmäßigem Blick auf eine Liste, eine Art Versuchsanordnung oder Rezept, zerquetscht Tochter Kajsa die rote Frucht zwischen Brandschutztüren, begräbt sie „lebendig“ in auf dem Boden angehäufter Blumenerde oder nagelt sie wie ein Gemälde an die Wand. Spuren ihrer vergänglichen Handlungen hinterlässt sie dabei nicht nur auf ihrer weißen Schürze, sondern wohl angeordnet im ganzen Raum. Nach und nach baut sich so eine Ausstellung auf.

Im Nachgespräch erzählt Eva Meyer-Keller, was sie 2002 zu dieser bittersüßen Verführung mit imaginativer Eigenbeteiligung bewogen hat: „Ich habe nach der Ausbildung nicht so viel Geld gehabt und wollte etwas machen, wo die Zuschauer*innen mitphantasieren müssen.“ Das Thema Gewalt habe da nahegelegen, weil jeder damit – direkt oder indirekt – Erfahrungen habe. Relativ schnell sei das Stück dann auch auf Kinderfestivals getourt, weil es sich aktiv mit dem Thema Gewalt auseinandersetze.

Der Gegensatz zwischen einem offensichtlich harmlosen Spiel mit Alltagsgegenständen und Lebensmitteln und den – je nach Wissensstand – in tiefere Schichten dringenden Unterbau des Stücks aber ist es, der es für junge und erwachsene Zuschauer*innen gleichermaßen interessant macht und eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema Gewalt, angepasst an die jeweilige Altersstufe, möglich macht. Eva Meyer-Kellers ausgefeilte Gabe das Große im Kleinen abzubilden gelingt hier so auch als spielerische Einführung in die Schnittstellen zwischen Tanz und Bildender Kunst. 

„Death is certain“ – Familienvorstellung ab 6 Jahren – wird erneut am 30. und 31. Oktober 2020 im FELD Theater für junges Publikum aufgeführt, dann in einer Inszenierung mit Eva Meyer-Kellers elfjährigem Sohn Otis Repotente.