Starling murmuration ©David Kjaer

Meine Überlebenstaktik: Fantasieren

Inky Lee schreibt über ihre persönlichen Erfahrungen während der Proben und Aufführungen eines nicht namentlich genannten Stückes. Das Stück wurde in Berlin uraufgeführt und bestand aus drei Teilen, die an drei verschiedenen Orten stattfanden.

Es war das erste Mal, dass ich einen Schwarm fliegender Stare am Himmel sah. Es war das erste Mal, dass sie neben mir saß. Es war das erste Mal, dass wir uns unterhielten. Als ich online nachschauen wollte, wie man „Fantasieren“ schreibt, stieß ich unter meinen ersten Suchergebnissen auf einen Artikel darüber, wie schlecht Fantasieren für das psychische Wohlbefinden sei. Der Artikel begann mit einem riesigen Foto von vier grinsenden weißen Menschen. Die Autorin hieß mit Vornamen Brianna: blondes Haar, blaue Augen, ein sehr symmetrisches Barbie-haftes Gesicht. Brianna schreibt, dass Menschen, die in der „Realität“ leben (was für sie das Gegenteil von „Fantasie“ ist), weniger Angst in ihrem Leben spüren und dafür mehr Ruhe und Erfüllung. Aber was ist mit den Menschen, deren Realität von Erfahrungen gezeichnet ist, die das Gegenteil von Ruhe sind, und die in die Fantasie flüchten, um auch nur vorübergehend etwas Freude zu empfinden?

Das Spektakel des Starenschwarms am Himmel war atemberaubend. Wir dreizehn Performer*innen feierten die Premiere und tranken Wein. Sie saß links von mir. Die Vögel tanzten ihre surreale Komposition in der Luft. In letzter Zeit habe ich zwar nur selten getrunken, aber an diesem Abend trank ich ein Glas Wein, um meine Schüchternheit zu überwinden und meine Nerven zu beruhigen. Im Schwarm zu fliegen ist für die Vögel eine Überlebenstaktik: um warm zu bleiben, zu kommunizieren und Raubtiere abzuwehren. In der Woche der Proben und Aufführungen bestand meine Überlebenstaktik darin, über die Person, die ich hier „R“ nennen werde, zu fantasieren. Als sie in meine Umlaufbahn trat, wurde die dünne Luft um mich herum auf einmal sehr dicht und gab mir Halt, was mich davon abhielt, durch sie hindurch zu rutschen und ganz zu verschwinden.

Bei der ersten Probe war die erste Frage an mich: „Wo kommst du her?“ Ich schauderte etwas und antwortete: „Meinst Du, wo ich ursprünglich herkomme?“ Es war eine andere Performerin, die mir diese Frage gestellt hatte. Sie selber kam aus Finnland. Sie hatte blaue Augen und blonde Haare. Später stellte sich heraus, dass sie eigentlich eine nette Person ist. Der Choreograf hatte auch blaue Augen, wie auch R. All die Songs und Gedichte über blaue Augen haben mich nie bewegt, aber aus irgendeinem Grund hatten Rs blaue Augen eine Wirkung auf mich. Diese Wirkung habe ich, glaube ich, zum ersten Mal bemerkt, als ich mich daran erfreute, wie R während der Feedback-Runde dem Choreografen die Stirn bot. Auf dem Nachhauseweg mit dem Fahrrad sah ich zwei Männer, die zu Fuß unterwegs waren. Eine weiße Frau fuhr mit ihrem Fahrrad an mir und an den Männern vorbei. Es passierte nichts. Als ich aber an ihnen vorbeiradelte, begannen sie laut zu rufen, zu lachen und laute Geräusche von sich zu geben. Ich fühlte mich wie ein Tier im Zoo.

Am Morgen vor der nächsten Probe war ich auf dem Weg zur Arztpraxis auf meiner Straße. Ein Mann auf einem robust aussehenden Mountainbike fuhr ganz nah an mir vorbei und murrte mir dabei etwas Widerliches zu. In der Arztpraxis hing ein riesiges Gemälde eines wunderschönen Buddha hinter dem alten deutschen Arzt. Neben ihm saß ein junger muskulöser Mann mit blauen Augen und blonden Haaren, der mich direkt anstarrte. Ich war hier, um einen Zettel zu bekommen, um endlich mit der Psychotherapie beginnen zu können (ich bin seit Mai auf der Suche nach einem*r Therapeuten*in), in der Hoffnung, Wege zu finden, mit den täglichen Belästigungen, die ich erlebe, umgehen zu lernen. Als der Arzt fragte, warum ich zur Therapie wollte, schwieg ich. Beide Männer starrten mich eine Weile an, dann schlug der Arzt schließlich vor: „Situationen in der Arbeit? Probleme mit dem Job?“ Ich antwortete leise: „Mein alltägliches Dasein im öffentlichen und privaten Raum.“ Er fragte, ob ich mich oft grundlos ängstlich fühle. Ich antwortete, dass ich neuerdings oft Angst hatte, weil es in meiner Gegend Leute gibt, die mich belästigen und stalken. Er bat mich, draußen zu warten und ich musste lange warten, bis er den Zettel ausgefüllt hatte. Darin stand: „Die Patientin fühlt sich diskriminiert.“ Sofort dachte ich: „Aber ich werde tatsächlich diskriminiert! Es ist nicht nur meine Vorstellung!“ Doch ich akzeptierte, dass es wahrscheinlich einfach nur Ärztejargon war.

Ich war ziemlich überwältigt, als ich bei der Probe ankam. Aber ich kam wieder zur Ruhe, als ich mich selber daran erinnerte, dass dies ein sicherer Raum voller bewusster Künstler*innen war. Ich war zu schüchtern, mit R zu sprechen oder sie auch nur anzuschauen. Aber während der Proben konnte ich heimliche Blicke auf sie werfen. Wenn sie in meinem Blickwinkel auftauchte, erwachte der Raum in elektrischen Farben zum Leben, die Luft um mich herum wurde weich und dicht und umhüllte meinen Körper mit sanfter Wärme. Während der Feedback-Runde hockte ich mich hin, um mich auszuruhen. Sofort machten mich zwei andere Künstlerinnen nach. Eine dritte schloss sich an und rief: „Das ist total asiatisch!“ Dann sagte sie: „Hey, wir sind hier alle Ladies!“ Ich war so schockiert, dass es mir die Sprache verschlug. Ich hasse es, als „Lady“ bezeichnet zu werden. Ich dachte auch an viele meiner queeren Freund*innen, die zwar als weiblich gelesen werden, sich aber heftig dagegen wehren würden, „Lady“ genannt zu werden. Mein Eindruck, dass dies ein „sicherer Raum“ sei, verflog sofort. Von diesem Moment an waren die Muskeln entlang meiner Wirbelsäule so angespannt, dass ich beim Gehen Schmerzen hatte. Bei jedem Schritt sang ich innerlich: „Let it go, let it go, let it go.“

Kurz vor der nächsten Probe nahm ich an der ersten Stunde einer Online-Konferenz über Tanz und Rassismus teil. Nach ihrem leidenschaftlichen Vortrag entschuldigte sich die erste Rednerin dafür, zu laut oder direkt gewesen zu sein. „Es tut mir leid“, sagte sie und schwieg einen Moment lang, um ihrer Entschuldigung Gewicht zu geben. Mir brach es das Herz zu sehen, wie sie sich dafür entschuldigte, ihre Meinung gesagt zu haben. Als ich mit dem Fahrrad zur Probe fuhr, brüllten mir ein paar Typen rassistischen Mist nach und ich zeigte ihnen den Stinkefinger. Als ich dem Ort, an dem die Proben stattfanden, näher kam, spürte ich in mir einen unerwarteten Widerstand. Ich blieb stehen und gab mir einen Moment Zeit, um mir die positiven Seiten der Probe vor Augen zu führen: der große offene Raum, der schöne Himmel, R. Ich radelte weiter. An diesem Tag voller Proben und einer Aufführung sang ich den ganzen Tag über innerlich bei jedem Schritt: „Ich bin in Sicherheit, ich bin in Sicherheit, ich bin in Sicherheit, ich bin in Sicherheit.“

Dies war der Tag, an dem R und ich uns zum ersten Mal unterhielten. Ich war so schüchtern, dass ich immer wieder Lachanfälle hatte, bis sie mich fragte, warum ich denn lache. Ich brauchte einen Moment alleine, um eine schüchterne Lachpause einzulegen, bevor ich ihr wieder gegenübertreten und mit ihr sprechen konnte. Ich bemerkte, wie es manchmal schien, als würden ihre Stimme und ihr Körper sich unabhängig voneinander bewegen, mit jeweils unterschiedlichen Qualitäten. Das gefiel mir. Sie zeigte mir ein Musikvideo einer 16-jährigen französischen Künstlerin, die einen Song über ihr schönes Leben sang. „Ja“, sagte ich laut zu der Sängerin auf dem Bildschirm, „Du kannst ein schönes Leben haben, weil du süß bist! (Und französisch und weiß)“. Den Teil in Klammern habe ich nicht laut ausgesprochen, weil ich meine Flucht in meine Fantasiezone weiter genießen wollte.

Gleich nach dem Ende meiner letzten Vorstellung fuhr ich mit dem Fahrrad zu einem anderen Ort, an dem ein weiterer Teil des Stückes aufgeführt wurde. Eine Performerin erklärte feierlich: „Der Horizont ist eine gerade Linie.“ Ich erinnerte mich daran, als ich vorhin mit dem Fahrrad unterwegs war und mich fragte, warum ich gerne auf einem sehr geraden Weg fahre, aber sehr straighte Menschen eigentlich nicht mag. Ich betrachtete die untergehende Sonne, den Himmel voller schöner Wolken mit ihren geschwungenen Linien und dachte: „Mein Horizont ist keine gerade Linie.“ R erschien im Raum. Die Luft atmete aus und wurde weicher. Die Farben wurden intensiver.

Der Abend wurde zur Nacht. Die gesamte Performer*innengruppe saß zusammen und feierte die letzte Aufführung mit Wein und Suppe. R saß rechts von mir. Nach und nach erschienen die Sterne am Himmel. Ich legte mich hin und blickte auf. R zündete ihre Zigarette an. Die Flamme zuckte aus ihrem Feuerzeug und ich wandte mich ihr zu. „Dein Licht gefällt mir“, sagte ich.

„Stört dich der Rauch nicht?“, fragte sie.

„Nein“, antwortete ich. „Ich mag den Rauch.“

Ich liebe mich für meine Liebe, ein zweifelhaftes Geschenk. Diese Zeile aus dem Gedicht November von Eileen Myles lief mir über den Rücken. Die Liebe, oder genauer gesagt, meine Fähigkeit, in meiner Fantasie zu schwelgen, ist mit Sicherheit ein zweifelhaftes Geschenk. Aber sie kann auch ein nützliches Geschenk sein, um Wege zu finden, mit etwas Freude, Humor und Herz zu überleben.


Deutsche Übersetzung von Nine Yamamoto-Masson