Chotto Desh, Akram Khan Company ©Richard Haughton

Zwischen den Stühlen

Mit Chotto Desh, einem bewegten und bewegenden Solo über die Biografie des Tänzers und Choreografen Akram Khan hat am Samstag, 20. Januar 2024 das PURPLE – Internationales Tanzfestival für junges Publikum (20.-28.01.) eröffnet.

Um zu beschreiben, was „Heimat“ meint, bräuchte es eigentlich zwei Schreibweisen dieses Wortes: Einmal mit einem großen H und einer großen Idee dahinter. Die „große Heimat“ fordert die Einhaltung von Traditionen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen. Sie besteht auf Loyalität mit dem Althergebrachten, darauf, dass alles „beim Alten bleibt“. Der anderen, „kleinen Heimat“ (Chotto Desh) hingegen genügt ein kleines h oder vielmehr der warme Klang der Stimme, die es ausspricht.

Die kleine Heimat, um die es in Akram Khans autobiografischem Solo (abwechselnd interpretiert von Jasper Narvaez und Nicolas Ricchini) geht, ist ein zauberhaftes Land, für das es keine Koordinaten gibt. Vielleicht liegt sie irgendwo zwischen London und Bangladesch, vielleicht irgendwo zwischen der Liebe zur Familie und dem Bedürfnis sich frei zu entfalten. Sicher ist, sie liegt zwischen den Stühlen. Sie taucht unerwartet auf, etwa in den Gesten eines Vaters, der kocht, sich am Kopf kratzt, Alltägliches verrichtet. Oder in der Süße einer Speise, die nährt und Erinnerungen weckt. Oder in den Märchen einer Großmutter, deren fantastische Figuren die eigene Kindheit begleitet haben.

So unerwartet, wie sie auftaucht, kann diese kleine Heimat auch wieder verschwinden. Auf der Bühne verfolgen wir, wie der Junge Akram nicht mehr ruhig auf dem ohnehin viel zu kleinen Kinderstuhl sitzen kann, der bis dato seinen Platz am Familientisch markiert hat. Die (Für)Sorge des Vaters und dessen Vorstellungen für Akrams Zukunft sind ihm zu eng. Akram möchte kein Restaurant betreiben, er will tanzen. Mit flinken Drehungen und Sprüngen turnt er um den besagten Stuhl herum und bringt den Vater, dessen Stimme aus dem Off auf die Bühne poltert, zur Weißglut. Über Tadel macht sich der Sohn mit anzüglichen Michael-Jackson-Zitaten lustig. Wenn er in Ruhe übt, allerdings, wird er ganz ernst. Neben indischem Kathak tauchen elegante Figuren aus dem Ballett, coole Hip-Hop-Moves und Elemente aus dem Kung-Fu auf. Akrams Tanzlust ist schier unbremsbar.

Akram ist hungrig, ganz so wie der kleine Shonu aus einer Geschichte in der Geschichte, die Akrams Großmutter erzählt: Mit einem Loch im Bauch, das Bärenkräfte freisetzt, macht er sich trotz Warnungen vor dem gefährlichen Löwenkönig auf in den Zauberwald, um dort Honig zu finden. Die Reise, die sich in gezeichneten Animationen vor unseren Augen abspielt, führt Shonu (getanzt von Akram bzw. dem ihn interpretierenden Tänzer) über wellenreiche Wasser, vorbei an einem Krokodil, das ihm einen Fisch schenkt, und schließlich bis hinauf in die Baumwipfel. Dort findet Shonu die prall gefüllten Honigwaben und isst sich endlich satt. Die Strafe folgt sogleich mit einem donnernden Gewitter und einer Regenwolke, die ihn verfolgt, bis er wieder auf der leeren Bühne landet und sich in Akram zurückverwandelt.

Nicht nur, aber vor allem für ein Kind, dessen Familie in einem Land lebt, das nicht ihre große Heimat ist, ist es nicht leicht, die eigene kleine Heimat zu finden, einen Platz, an dem es bequem ist, und Futter, das den eigenen Lebenshunger stillt. Davon erzählt Chotto Desh auf berührende Art und Weise.


Chotto Desh von der Akram Khan Company eröffnete am 20. Januar 2024 im HAU1 das 8. PURPLE – Internationales Tanzfestival für junges Publikum. PURPLE findet vom 20.-28.01.2024 in verschiedenen Spielstätten statt. Tickets: https://purple-tanzfestival.de/ticketpreise/