URUBUS, Aloísio Avaz, Anete Colacioppo, Daniel Brunet, Vinicius Giusti, MXM ©nonconformat

Gefühle essen wie Äpfel

URUBUS von und mit Aloísio Avaz, Anete Colacioppo, Daniel Brunet, Vinicius Giusti & MXM (Mirella Brandi X Muep Etmo), feierte vom 19. bis 21. Januar 2024 Premiere im Acker Stadt Palast. Die Bühnenfassung basiert auf dem gleichnamigen Buch der in Berlin lebenden brasilianischen Autorin Carla Bessa.

„Und weißt du was, ich kann Äpfel nicht ausstehen! Und auch den Geruch ihres Mannes hatte sie nicht ausgehalten, Brasil Nativo-Pflegeset Grüner Apfel Deo, Parfum und Seife.“

Anete Colacioppo sitzt auf einem Stuhl in der Bühnenmitte, hält ein Küchenbrett auf dem Schoß und schneidet einen Apfel. Sie spricht Portugiesisch. Muep Etmo improvisiert am Klavier. In der Klanglandschaft mischen sich Außenaufnahmen und elektronische Musik. Bald ertönt die Aufzeichnung einer deutschsprachigen Lesung der Kurzgeschichte „Vulkane“ aus dem Buch URUBUS, das in dieser Performance für die Bühne adaptiert wurde. Wir hören die Geschichte von Aparecida, die nach vierzig unglücklichen Ehejahren kürzlich ihren Mann verlor. Zu Lebzeiten schälte und zerteilte dieser ihr nach jedem Mittagessen einen Apfel, ein Ritual, das sie hasste und doch hinnahm.

Überall auf der Bühne liegen Äpfel. Colacioppo hebt sie auf, lässt sie in eine metallene Schale fallen, trägt sie herum, reicht sie ins Publikum, wirft sie auf den Boden, isst sie… Ich beobachte sie in ihrer Interaktion mit den Früchten und frage mich, wie es wäre, erlaubte ich einem Objekt, derartig profunde Emotion und Erinnerung zu bergen? Insbesondere, wenn es sich um ein ganz gewöhnliches Objekt handelt, eines, das sich überall findet?

„Sie verschluckte sich an dem Stück Apfel und an den Erinnerungen an den Alten und an ihr ganzes Nichtleben, eine einzige schlecht getroffene Wahl […] Sie wollte vergessen, aber da hatte sich zu vieles angesammelt.“

Colacioppo setzt sich wieder auf den Stuhl und schneidet abermals einen Apfel, immer weiter und weiter, in immer kleinere Stücke. So schließt dieser Akt, und ich bin fasziniert davon, wie seltsam und komplex Menschen sein können. Wieviel kann ein Körper ertragen, ohne einen Ausdruck dafür zu finden? Auf welch seltsamen und unerklärlichen Wegen können Geheimnisse an die Oberfläche dringen?

Am Ende der Performance wiederholt sich die Szene, in der Colacioppo Äpfel schneidet. Jetzt aber raspelt sie sie so fein, dass nicht mehr erkennbar ist, was sie eigentlich zerteilt. Zu sehen ist nur noch ein Häufchen weißen Fruchtfleischs, es könnte auch etwas anderes sein: Ingwer, Knoblauch, eine Pastinake…? Ist das nicht auch manchmal unsere Art, mit Gefühlen umzugehen? Wir feinraspeln unsere Einsamkeit, unsere Trauer, Wut, Scham, ritzen sie in winzige Flöckchen und streuen sie dann über unseren Salat der Gefühle. Sind sie noch zu erkennen? Erkennen wir sie noch? Wann beginnen sie zu faulen und zu stinken? Warum sind wir so hungrig, dass wir letztlich den ganzen Salat gierig verschlingen?

„Sie lachen viel da unten, singen, tanzen, lachen und lachen, doch unseren Geieraugen entgeht nicht die Fäulnis unter der empfindlichen Hülle, sie stinken zum Himmel, die Verheerungen, Verzweiflungen, Einsamkeiten, Hoffnungslosigkeiten…“

In einer Szene kurz vor Schluss schlendert Daniel Brunet über die Bühne und rezitiert in einer Mischung aus Deutsch und Englisch die letzte Geschichte aus dem Buch „Geier II“. Er verkörpert die Geier – auf Portugiesisch urubus ­– die die Menschen von oben betrachten.

Die Performance insgesamt wirkt düster und bedrohlich. Sie wird begleitet von in Moll gehaltenen Improvisationen am Klavier. In der Vinicius Giusti und Rees Archibald geschaffenen Klanglandschaft nehme ich Kreischen, summende Fliegen, bellende Hunde, Schreie verschiedener Kreaturen wahr … Das Licht – gestaltet von Mirella Brandi – ist gedämpft. Nebel wird durchbrochen von Blitzlichtern. Der Blick direkt auf die Bühne ist unangenehm, das grelle Leuchten schmerzt. Ich wende meine Augen von den Lichtblitzen ab, hoffe, dass sie aufhören. Derweil konzentriere ich mich auf die in mir vergrabenen Gefühle, die ich meist bewusst ignoriere, weil sie unangenehm sind und ich sie nicht ertrage.

URUBUS schließt mit Videobildern von Geiern, die einen Kadaver fressen. Wir sehen Vögel, die den nackten Rumpf eines toten Tieres zerpicken.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Die Textzitate stammen aus der deutschen Ausgabe von Urubus, in der Übersetzung von Lea Hübner, Berlin: Transit Verlag, 2021.


URUBUS von und mit Aloísio Avaz, Anete Colacioppo, Daniel Brunet, Vinicius Giusti & MXM (Mirella Brandi X Muep Etmo),feierte vom 19.-21. Januar 2024 im Acker Stadt Palast Premiere.