More Ballads of Outlaw Feelings, Melanie Jame Wolf ©Ashton Green

Ground Control

Im Rahmen ihrer Großausstellung The Creep (21. Oktober 2023 bis 10. Februar 2024 im E-WERK Luckenwalde) präsentierte Melanie Jame Wolf am 3. Februar 2024 mit ihrer Performance More Ballads of Outlaw Feelings ein Lebendbild der scheinbaren Unausweichlichkeit von Mustern der Macht.

Eine Stunde vierzig Minuten dauert die Fahrt mit der Regionalbahn von Berlin bis zur Turbinenhalle des E-WERKs in Luckenwalde. Einmal angekommen, empfangen mich sparsam-skulpturale Gesten.  Knollenförmige Erhebungen aus rotem Latex erinnern an Organe, Wucherungen, Reste von Bluttropfen auf dem Boden. Im Raum ein Regal, in tiefroten, dichten Stoff gehüllt. Hängend geformt ist scheint es  einen zerstückelten Bühnenvorhang oder eine Landmasse anzudeuten, eine Karte, einen umgestülpten Berg. Lange, pastellfarbene, tönerne Zungen lecken an Seitenwänden. Ein großes Podest auf einer Holzbühne und ein kleineres auf dem kalten Kachelboden formen flache, aus weißem Sperrholz gestanzte, am Horizont aufragende Bergsilhouetten. Ihre zweidimensionalen Spitzen erheben sich gegen die Schwerkraft. Sie könnten Reminiszenzen einer Theaterebene sein. In zwei kleineren, mit industriellen Fertigungsmaschinen ausgestatteten Räumen, etwas abseits von der gigantischen zentralen Halle, entdecke ich eine Videoarbeit und einen Fotodruck.  Hier wabert der betörende Duft von Fichtenholzspänen aus den brandenburgischen Naturwäldern, die heute in der Anlage zur Energiegewinnung und Kunstproduktion verbrannt werden. In den Prints und den bewegten Bildwerken erkenne ich ‚The Outlaw‘, die zentrale, mythische Figur der ‚Creep Studies‘, die Melanie Jame Wolf seit 2022 in mehreren Proformance-Ausstellungsformaten entwickelt hat.


©Ashton Green


Nun betritt der/they wunderbare Melanie Jame Wolf selbst die Haupthalle als ‚The Outlaw‘. Im Künstler*innengespräch nach der Show lerne ich, dass er/they genau diese Pronomen für sich gewählt hat.  ‚The Outlaw‘, die mir scheinbar vertraut gewordene Kunstfigur, strahlt eine geradezu unheimliche Souveränität aus. Einen lederbestiefelten Fuß nach dem anderen gemächlich voreinander setzend schreitet er/they würdig über den kalt-gekachelten Boden. Mit jedem langsamen, raumgreifenden Schritt setzt er/they sich über das Recht des Landes hinweg, das andere und uns bestimmt. Wir wenden die Köpfe, unsere Stimmen verstummen. Der Außergesetzliche wird still und leise zum Gesetz.  

Wolfs Studie der unsichtbaren Machtstrukturen von Gewalt und Grenzen, die wir hinter uns lassen, wenn wir unmerklich die Schwelle vom Verlockenden zum Unheimlichen, vom Erotischen zum Beängstigenden, vom Reizvollen zum Abstoßenden überschreiten, spiegelt den scharfsinnigen und zugleich ökonomischen Blick auf das entwickelte Material, das ebenso objektiv wie ephemer daherkommt. Die langgezogenen Worte aus dem Mund des/der Geächteten und their dröhnenden Schreie in den Raum hallen nach und überwältigen uns mit ihrer klangvollen und unerwarteten Dominanz. Die Stille nach dem Nachklang verdichtet die Atmosphäre, und mich beschleicht ein Gefühl von Angst und Heiterkeit. Hilft Lachen, Angst zu bewältigen oder zu vermeiden? Hilft Lachen, Angst zu leugnen oder zu akzeptieren, was wir fürchten? Die gesprochene Zeile – „Oh! Get away with it for long enough, and it’ll start to look like fate.“ (dt. Oh! Wenn du lange genug damit durchkommst, erscheint es dir als Schicksal.) ”wiederholt sich auf verschiedene Weise, denn Wolf spielt mit dem Aroma der Konsonanten im Satz, mit der Länge und Ausatmung der Vokale. They schlendert von einer Seite der Bergrückseite auf die andere, wie auf einer sichtbaren ‚Hinterbühne‘.  Dies Land ist their Land, und their Agieren steuert das Ökosystem, an dem wir teilhaben.


©Joanna Wilk


Wolf verwandelt sich geschickt in die Figur von selbstbewusst und selbstsicher Handelnden, mit einem Augenzwinkern, das uns einlädt, zu hinterfragen, wofür „The Outlaw“ steht. Wann wird etwas, das gut erscheint oder sich gut anfühlt, schlecht? Wann wird etwas Schlimmes, das wir als „natürlich“ ansehen und daher als gegeben annehmen, essenziell? More Ballads of Outlaw Feelingsoffenbart die unsichtbaren Zyklen von Macht und Herrschaft, und die vielen Weisen, auf die faschistische, perfide Muster unsere Körper, das Leben und die Welt durchdringen, indem sie gewaltige Verflechtungen von Einfluss, Manipulation und Kontrolle zwischen Mensch, Natur und Geist schaffen und instrumentalisieren.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


More Ballads of Outlaw Feelings von Melanie Jame Wolf wurde am 3. Februar 2024 im E-WERK Luckenwalde gezeigt.