„Matria – Motherland“, Rocío Marano ©Mayra Wallraff

Zwei Verortungen

TANZTAGE BERLIN 2023 >>> Mit „Matria – Motherland“ von Rocío Marano und „To be a fish in a Raki bottle“ von Elvan Tekin verhandelten die Choreografinnen in den Sophiensælen auf unterschiedliche Weise geopolitische Bezüge.

 Text: Vera Knolle

An dem Abend in den Sophiensælen ließen sich in den Stücken von Rocío Marano und Elvan Tekin eindrucksvoll zwei unterschiedliche Strategien im Umgang mit Bedeutung beobachten. Beide Stücke bezogen sich auf das spezifische historische und geopolitische Gefüge einer bestimmten Region (Patagonien/Wallmapu bzw. Türkei/Kurdistan) und doch waren es zwei unterschiedliche Arten, mit diesen Bezügen umzugehen. Während Marano mit dem Verweben von Bedeutungselementen in Bewegung und Kostüm arbeitete, kontrastierte Tekin Gestisches mit einem fast abstrakten (Kostüm-)Material.

In „Matria – Motherland“ arbeitet Morano mit dem Tanz der argentinischen Gauchos, dem Malambo. Das Stück beginnt ganz einfach, konzentriert auf kraftvolle Schritte, die im Dunkel auf den Boden schlagen. Es entwickelt sich zunächst als akkumulierende Steigerung der Komplexität der Schrittmuster und der Perkussion, die sie mit den Schuhen erzeugen. Mit explizitem Verweis auf Anne Teresa De Keersmaekers „Fase“ verschieben sich die Rhythmen gegeneinander bis sie brechen und sich desynchronisieren. In den Hosen der Gauchos, aber in Fußballschuhen mit Stollen umkreisen sich die Tänzerinnen zunächst mit argwöhnischer Mimik und treten in Rivalität gegeneinander an. Das Stück arbeitet hier nicht nur mit Klischees „des Argentiniers“ und der Praxis des Malambo als Wettbewerb, sondern greift mit einer subtilen Verbindung von Bedeutungselementen auch die Hybridisierungen in der Kultur der Gauchos auf, vor allem den Austausch zwischen Pferden und Menschen: eine Tänzerin trägt eine Art Halfter um den Kopf; die andere einen Pferdeschwanz; der Kreis, den die beiden beschreiben ist auf dem Boden mit etwas wie Erde nachgezeichnet und lässt an eine Reitbahn denken. So wie der Malambo als perkussiver Tanz für ein Spiel mit dem Geräusch der Hufe und damit für ein Pferd-Werden des Gauchos stehen kann, so wird im Verlauf des Stücks diese Hybridisierung weitergetrieben, z.B. wenn die Tänzerinnen in einem Akt weiblicher Aneignung mit nacktem Oberkörper tanzen und trommeln oder die Schritte des Malambo verfremdet werden. Die akustisch raumfüllende, energiegeladene Darbietung motiviert das Publikum zu Szenenapplaus. Lange vor der Trap-Nummer am Ende herrscht Festival-Stimmung.

Es lässt sich aber fragen, ob die Virtuosität des Materials nicht manchmal zu sehr in den Vordergrund tritt; die einzelnen Abschnitte stehen dann etwas unvermittelt nebeneinander. Eine dichtere inhaltliche und dramaturgische Verschränkung hätte dem Stück hier mehr Konsistenz und Schärfe geben können.

Elvan Tekins „To be a fish in a Raki bottle“ beginnt mit einer Sequenz aus teils wellenförmig-fließenden, teils den Körper fragmentierenden Bewegungen, die zunächst bedeutungsoffen bleiben. An ihrem Ende kommt sie zum Stehen und nimmt den Schal ab, der bis dahin um Gesicht und Kopf gebunden war. Sie hält ihn mit beiden Händen, die sich zu Fäusten formen, und scheint ihn dehnen zu wollen, indem sie einen Arm von sich weg streckt und so verharrt. Als sie mit einer abrupten Bewegung nur ihre Ausrichtung im Raum ändert, wird dieser Schal plötzlich als Gewehr erkennbar. Tekin gelingt es hier aus einer im Vagen gehaltenen Bedeutsamkeit im nächsten Augenblick einen sehr konkreten Sinn erscheinen zu lassen und in der Folge eine Situation der Bedrohung zu skizzieren. Aus dem Schal werden im Verlauf des Stücks noch Handschellen, eine Peitsche, eine Fahne. Sie wechseln sich mit Fäusten als Gesten der Wehrhaftigkeit und des Kampfes und vor das Gesicht geschlagene Hände als Geste der Verzweiflung und Trauer ab. Tekin geht dabei allmählich zu einem Drehtanz über, der an Schwindel und den Zustand des „Karussellfahrens“ nach zu viel Alkohol – oder eben Raki – denken lässt; aber auch an Freude und Ausgelassenheit. Die Choreografie oszilliert hier mit einfachen Mitteln zwischen Selbstverlust und Selbstgenuss, bevor die Tänzerin am Ende auf den Umriss des Schattens zurückblickt, den ihr Körper hinter sie wirft. Tekin fokussiert damit wie in dem gesamten Stück darauf, einer Erfahrung eine Form zu geben. Der Abstand zwischen dem Körper und seinem Schatten mit porösen Grenzen, verweist auf die innere Vielfalt eines Selbst, das offen bleibt für Akte der Rückgewinnung und Selbstermächtigung. 

Foto: „To be a fish in a Raki bottle“, Elvan Tekin ©Mayra Wallraff


Die Performances „Matria – Motherland“ von Rocío Marano und „To be a fish in a Raki bottle“ von Elvan Tekin fanden am 10. & 11. Januar 2023 als Double-Bill in den Sophiensælen statt. Die Tanztage Berlin 2023 laufen noch bis zum 21. Januar, das Festivalprogramm und Ticketinformationen finden Sie unter tanztage-berlin.sophiensaele.com.


Dieser Text von Vera Knolle entstand im Rahmen der zweitägigen tanzschreiber-Schreibwerkstatt zu den Tanztagen Berlin 2023 unter der Leitung von Agnes Kern und Johanna Withelm, in Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Mareike Theile. Hier geht’s zum tanzschreiber-Artikel von Anna Chwialkowska, die ebenfalls die Double-Bill „Matria – Motherland“ von Rocío Marano und „To be a fish in a Raki bottle“ von Elvan Tekin besuchte >>> „Das Matriarchat ist angebrochen“, 14.01.2023, tanzschreiber-Werkstatt Texte in Bewegung