TANZTAGE BERLIN 2023 >>> Vom 7. Januar ca. 22 Uhr bis zum 8. Januar 2023 ca. 5 Uhr lud Parisa Madani im Rahmen der Tanztage Berlin in die Sophiensæle in die Welt der Träume und der Fantasie ihrer „Langzeit-Kollektiv-Traummeditation“ mit dem Titel „Pariyestan: Tails of Sisters, 青蛇+白蛇: 緣起“.
Eine Vollmondnacht. Das Publikum betritt Pariyestan. Es ist düster. Der Raum ist in sanft-bläuliches Licht getaucht. Geometrische Muster erscheinen als Projektionen an zwei Wänden, runde Formen, die aussehen als trieben sie unter Wasser. Auf dem Boden liegen Kissen und Decken. Ich höre Drohnen und Vögel. Es herrscht eine Stimmung wie an einem Sommertag im Park: Menschen sitzen oder liegen, allein, als Paar oder in größeren Gruppen zusammen. Sie plaudern, trinken, naschen. Ich lege meine Yogamatte hin, stecke das Kissen in den Bezug, breite die Decke aus und setze mich. Den violetten Kristall halte ich in der Hand.
Nachdem wir uns alle niedergelassen haben, tritt Parisa Madani auf. Sie macht vogelähnliche Geräusche und klopft mit ihren langen Fingernägeln. Sie erreicht die Mitte des Saales, den Platz, der den Performenden vorbehalten ist, und begrüßt uns. Sie erinnert uns an „die wichtigste Information im Programmheft“, nämlich dass „Reproduktionen der Hegemonialmächte und white supremacy in Pariyestan mit Feuer bestraft werden“. Sie deutet auf mehrere Kerzen im Raum und sagt: „Wir haben hier bereits ein Feuer. Und wir haben die Feuerwehr hier.“ Im Hintergrund läuft ein Feuerwehrmann auf und ab und prüft die Kerzen. Ich, die Immigrantin, finde das in diesem Kontext erfrischend, instruiert man mich doch immer wieder, ich möge mich „an die Regeln halten und tun, was die Behörden vorschreiben“. Ich bin begeistert, jemanden zu sehen, der normalerweise eine „Autoritätsfigur“ ist, heute aber uns unterstützt und über unsere Wünsche wacht.
Nachdem sie ihr Ensemble vorgestellt hat, berichtet die deutsch-iranische Künstlerin Madani unter Tränen von der Revolution im Iran. „Dieser Raum würde bersten, läsen wir die Namen all jener vor, die im Kampf ihr Leben ließen“, erklärt sie. Sie widmet die Performance denen, „die für die Revolution starben“. Ein großes, schwarzes Stück Stoff hängt in einer Ecke des Saales von der Decke. Auf ihm steht, in weißer Farbe: „Jin, Jîyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit). „Um gegen den Apparat Widerstand zu leisten ist es manchmal am besten, du legst dich hin und weinst. Wenn ihr heute Nacht weinen müsst, lasst es raus.“ Mit dieser Aufforderung, uns zu entspannen – nicht nur körperlich, sondern auch emotional – beginnt die Vorstellung. Tee wird serviert, es wird ruhig. Es öffnet sich der kollektive Raum der Ruhe.
In der Mitte des Saales vollführen Madani, Chen Mingjou und Liu Yujing in steter Wiederholung langsame Bewegungen. Die Projektion verändert sich. Jetzt drehen sich weiße Kreise sanft vor schwarzem Hintergrund. Sie erinnern mich an Planeten, die durchs All schweben. Es wirkt beruhigend. Die drei Performerinnen gehen hinaus.
Madani kehrt zurück. Sie hat sich umgezogen. Jetzt trägt sie ein wallendes Kleid und einen großen schwarzen Hut, der ihr Gesicht fast ganz verdeckt. Sie rezitiert ein Gedicht auf Englisch. Einmal schluchzt sie auf. Ich blicke mich um im ruhigen Raum und spüre unsere individuelle und kollektive Trauer. Ich fühle mich autorisiert, meine Gefühle ruhen zu lassen, mein Herz – meine Sorgen, meine Wut, meine Angst – abzulegen. Ich erlaube mir Entspannung in der Nähe der Körper der Fremden um mich herum. Madani verlässt den Saal.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens beginnen die im Programm als „Schlangen“ angekündigten Chen und Liu ein Gespräch auf Mandarin. Sie sind in lange Roben gewandet, die an Schlangen erinnern. Sprechend bewegen sie sich durch die Menschen. Projiziert werden synchron fließende grüne und weiße Linien. Einige Leute pusten Seifenblasen, andere lackieren sich gegenseitig die Nägel, manche zeichnen, andere ruhen. Ein paar schlafen auch. Ich blicke mich um und denke, dass die Betrachtung anderer beim Schlafen etwas sehr Intimes ist. Ich erlaube mir Verletzlichkeit. Ich lege mich hin und schließe die Augen.
Ich denke zurück an einen früheren Moment, in dem Madani sagt: „Vielleicht findet ihr heute Nacht Liebe da, wo ihr sie nicht erwartet.“ Und weiter: „Das Zeichen der Revolution wird euch vor dem Blick der Anderen verbergen.“ Dabei zeigt sie auf die Nische hinter dem schwarzen Stoff und deutet damit an, dass wir diese Ecke für private Momente nutzen können. Ich betrachte Madanis Poesie, die Verbindung zwischen dem Zeichen der Revolution und dem Ort der Liebe. Die Revolution demonstrierte die Kraft der Liebe. Liebe für Gerechtigkeit und Freiheit. Liebe für eine Gemeinschaft, eine Person, eine*n selbst. „Du verdienst Ruhe“, heißt es im Programmheft. Ich realisiere, dass es diese radikale Form der Ruhe braucht, um Mut und Kraft für die vollkommene Liebe zu gewinnen und um diese auch zu zeigen.
Die Lichter werden gedimmt. Madani schläft in der Mitte des Raumes. Neben ihr spielt Azin Zahedi die Santur. Der Klang der Saiten ist melancholisch und friedvoll. Irgendwann summt Zahedi, summt die Menschen im Raum in den Schlaf. Dann spricht jemand. Eine Stimme erklingt. Leise Worte in Farsi. Nach und nach verstummen sie. In der Stille erscheinen drei Projektionen auf den Wänden. Ich sehe wechselnde Farben, die Konturen von Schlangen und einen portugiesischen Text.
Als Snack wird gelber Reis gereicht. Danach sprechen Chen und Liu zärtlich miteinander, sprechen wie Schwestern. Sie wandeln durch den Raum. Das Licht erstrahlt rot, pink und purpurn. Von einem Apparat erzeugter künstlicher Rauch hüllt uns ein. Ich komme mir vor wie in einem Traum. Dann geht das Licht aus und ich schlafe.
Vogelzwitschern weckt mich. Ich öffne die Augen, sehe ein orangefarbenes Leuchten. Madani, Chen und Liu spielen miteinander, mit Kissen. Leise erklingt jetzt Musik. Sie wird lauter. Der Raum erwacht, und die drei Performerinnen legen Papierbögen, bunte Marker und Wasserfarben auf den Boden. Schwarzer Tee und Teller mit Gurkenscheiben und Äpfeln gehen rum. Wir teilen unsere Träume in Zeichnungen und Worten. Dieser Ort der Fürsorge, an dem wir unseren Träumen in verschiedenen Sprachen und Nichtsprachen Ausdruck verleihen, könnte unser kollektiver Traum sein.
Dann beginnt der „sanfte Abgang“. Die Menschen verlassen den Saal, in ihrem eigenen Rhythmus.
Ich trete hinaus, auf die dunkle, leere Straße. Ich gehe langsam. In meinem Traum.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
„Pariyestan: Tails of Sisters, 青蛇+白蛇: 緣起“ von Parisa Madani (Mit Parisa Madani, Antonella Fittipaldi, Liu Yujing, Chen Mingjou, Gadutra, Saman Mahdavi, Hadi Bastani, Raouf Alaia, Nir, Christa Ringhandt und anderen – Musik: Azin Zahedi – Ton, Bild: Amin Banitaba – Dramaturgische Unterstützung: Dandan Liu) fand vom 7. Januar 22.00 Uhr bis ca. 5.00 Uhr am 8. Januar 2023 im Rahmen der Tanztage Berlin in den Sophiensaelen statt. Die Tanztage Berlin 2023 laufen noch bis zum 21. Januar, das Festivalprogramm und Ticketinformationen finden Sie unter tanztage-berlin.sophiensaele.com.