„To be a fish in a Raki bottle“, Elvan Tekin ©Mayra Wallraff

Das Matriarchat ist angebrochen

TANZTAGE BERLIN 2023 >>> Mit „Matria – Motherland“ von Rocío Marano und „To be a fish in a Raki bottle“ von Elvan Tekin drehen sich zwei Choreografinnen standhaft um Konzepte von Männlichkeit, Identität und politischer Teilhabe.

 Text: Anna Chwialkowska

Rocío Marano und Ángela Muñoz kreisen in „Matria – Motherland“ im Gleichschritt um das rätselhafte Bühnenbild, bestehend aus zwei Podesten, einer Trommel und einer Snare. Sie tragen auffällige Fußballsneaker, ihre Blicke richten sie zuerst zu sich, dann zum Publikum. Der Anfang zieht sich hin, langsam aber sicher verwandeln sich beide Performerinnen zu Pferden in einer Manege.

Wir warten auf das Hufgewitter. Ich frage mich noch, ob die Trommel in dieser zeitgenössischen Interpretation des traditionellen argentinischen Malambo überhaupt berührt wird, geschweige denn gespielt – schon löst es sich ein. Plötzlich rasen sie oberkörperfrei, Ángela Muñoz mit der Trommel, Rocío Marano mit ihrem Oberteil, das nun wie ein Fußball-Schal um ihren Hals hängt, über die Bühne. Rocío Marano grölt das Publikum in einer triumphierenden Pose an, als hätte sie eben ein Tor geschossen.

Es gibt etwas an Frauen mit Perkussionsinstrumenten, das mich niemals kaltlässt. Dazu die kurzen, perfekt majestätischen Stepp-Sequenzen von Rocío Marano auf dem Plateau. Das Publikum jubelt nach jeder dieser Show-Einlagen. Und doch wirken die eindeutig männlich konnotierten Bewegungen und das Geprahle seltsam verzerrt. Das Stück bewegt sich konstant auf einer genialen Zweideutigkeit: Wie sehr ehrt Rocío die Tradition des Malambo eigentlich, wie sehr verachtet sie sie?  Wie habe ich die anklagenden Textauszüge zu deuten? Sind sie ernst gemeint? „Miramé bien a mi vulva y escucha mi lamento!“ (Schau auf meine Vulva und erhöre mein Klagen!). 

Foto: „Matria – Motherland“ von Rocío Marano, mit Ángela Muñoz ©Mayra Wallraff

Ich genieße die Demystifizierung, und die befriedigenden Bilder, die wir bekommen. So wirkt ein langsam erleuchteter Helm mit zwei Kuhhörnern zunächst wie ein Relikt – auf Ángela Muñozs Kopf gesetzt ist es dann doch nur ein gewöhnlicher Fahrradhelm. Die Performerinnen lassen uns an das Profane des Malambo glauben.

Nach einigen fake endings bricht das Stück auf: Die Performerinnen – nun in protzige HipHop-Felle gekleidet – rappen eben diese Texte, die vorher noch als Klagegedichte vorgetragen wurden. Die Kraft, die aus allen Poren dieser Performance und weiblicher Körper nur so strotzt, versöhnt mich mit dem etwas langwierigen Anfang und der manchmal stockenden Dramaturgie. Die Ernsthaftigkeit der Performance ist so überzeugend, dass ich noch einige Tage darüber lachen werde.

Eine weitere Aneignung einer männlich kodierten (Tanz-)Praxis bietet anschließend Elvan Tekins „To be a fish in a Raki bottle“.

Elvan Tekin liegt auf dem Boden wie eine an Land geschwemmte Sirene. Ihr Gesicht ist mit einem rot-weiß gefleckten Tuch verhüllt. Ein knackendes Geräusch setzt ein. Marionettenartig bewegt sie isolierte Körperglieder, als ob ihre Knochen das Knacken selbst erzeugen und winden sich stetig bis ihr Körper regungslos vor uns stehenbleibt. Für mich hätte sich dieser Körper niemals aufrichten müssen – so präzise und unheimlich ist Elvan Tekins Bewegungsqualität. Aber sie richtet sich auf, weil sie was zu sagen hat. 

Langsam enthüllt sie ihr Gesicht und spannt das Tuch fest zwischen ihre Hände, was nun in einer Anreihung an Symbolen zu uns spricht: mal als Waffe, mal als Rüstung, mal als unschuldige Gefangene, mal als Halt.

Die Performerin umkreist mit der Sinnhaftigkeit ihrer Hände die Bühne bis sie zu ihrer letzten Geste kommt: Sie dreht sich um sich selbst. Die Assoziation mit einem Derwisch ist unvermeidlich. Ihre unaufhörliche Bewegung ruft durch Beständigkeit und Gleichförmigkeit einen Wandel hervor. Gleich der kurdischen Frauenbewegung, auf die Elvin in dem Stück referiert. Ich beginne zu meditieren, auch über diesen Text. 

Sowohl der Malambo als auch der kreisende Tanz der Derwische entwickelten sich aus einer sehr lokalen, teils religiösen Praxis fernab des westlichen Blickes zu nationalen Touristenattraktionen. Beide Stücke kreisen um unterschiedliche kulturelle Referenzsysteme, die jeweils zelebriert, kritisiert und neubelegt, also mit feministischen Methoden aufgearbeitet werden. Mit der fünften Performance nicht-männlicher Künstler*innen in Reihe scheinen die TANZTAGE BERLIN das Matriarchat ausgerufen zu haben. 


Die Performances „Matria – Motherland“ von Rocío Marano und „To be a fish in a Raki bottle“ von Elvan Tekin fanden am 10. & 11. Januar 2023 als Double-Bill in den Sophiensælen statt. Die Tanztage Berlin 2023 laufen noch bis zum 21. Januar, das Festivalprogramm und Ticketinformationen finden Sie unter tanztage-berlin.sophiensaele.com.


Dieser Text von Anna Chwialkowska entstand im Rahmen der zweitägigen tanzschreiber-Schreibwerkstatt zu den Tanztagen Berlin 2023 unter der Leitung von Agnes Kern und Johanna Withelm, in Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Mareike Theile. Hier geht’s zum tanzschreiber-Artikel von Vera Knolle, die ebenfalls die Double-Bill „Matria – Motherland“ von Rocío Marano und „To be a fish in a Raki bottle“ von Elvan Tekin besuchte >>> „Zwei Verortungen“, 14.01.2023, tanzschreiber-Werkstatt Texte in Bewegung