Kévin Bonono, „A Sensation of a Truth“ ©Kevin Bonono

Ein Hauch von Wahrheit

TANZTAGE BERLIN 2023 >>> Ausweglos: „A Sensation of a Truth“, eine Inszenierung des Choreografen und Performers Kévin Bonono am 13. und 14. Januar 2023 in den Sophiensaelen.

Ein Hauch von Licht schimmert im weißwandigen Hochzeitssaal der Sophiensäle. Das Publikum tritt ein. Eine maskierte Gestalt schwebt bedrohlich, doch sanft durch das Auditorium. Sie spricht uns nicht an. In keinem Moment. Und dennoch ist sie allgegenwärtig. Bleiche Vorhänge finden sich in der Mitte des Raums drapiert. Sie wirken stark, wie sie da in einem Quadrat hängen. Als Soundtrack (live performt von Rey KM Domurat) rast ein verstörender, irritierender Sturm, unterbrochen von gelegentlichem Donnergrollen. Möwenartiges Pulsieren ist das einzige Leben in diesem Fegefeuer.

„A Sensation of a Truth“ ist eines dieser experimentellen Stücke, bei denen sich das Publikum unwohl fühlen soll. Es ist ein Bruch mit den Konventionen, die die Bühne (für einige) zum Sanktuarium machen. Wer über den Performer und Choreografen Kévin Bonono liest und sich die Gewalt bewusst macht, der Schwarze und queere Körper ausgesetzt sind, weil sie auf eine bestimmte Art gelesen werden, wundert sich nicht über diesen Ansatz. Bononos Produktion thematisiert das Überleben: „Sie decodiert Hass und wendet die notwendige Identifizierung von Rassismus und Homophobie in eine Überlebensstrategie.“ 90 Minuten lang bietet die Show, was sie verspricht, was auf dem Etikett steht: einen Raum, der sich bewusst gegen die dominante Perspektive stellt, sie hinterfragt und dekonstruiert, während der Körper in der Wiederholung und Reaktion mit dem Leiden spielt, das ihm der sozial-konstruierte, kollektive Blick aufzwingt.

Das bedeutet Innehalten und Schweigen, Stillstand und zugleich einen „explosiven Ausbruch“, eine kontinuierliche, wiederkehrende Bewegung, die „A Sensation of a Truth“ gewissermaßen definiert. Bonono lässt sich mit Nikita A. Zhukovskiy Trachtenberg über die Bühne treiben und bildet um Kameras und Scheinwerfer herum neue Formationen. Dabei kommt es immer wieder zu spasmodischen Zuckungen, die in angespannte, auf kleiner Flamme kochende, elaborierte Bewegungen münden. Die Regungen sind repetitiv, doch manifestiert auf unterschiedliche Weise. Konvergierend mit dem Soundtrack evozieren sie das Gefühl der „Belastung“, das das Stück durchzieht.

Manchmal droht ein Angriff, so scheint es,  wenn der Künstler mit dem Ziel der Wiederaneignung die Produktionsmittel – 5 bewegliche Leinwände, 2 Kameras und auf Rollen montierte Lampen – auf das Publikum gerichtet. Während der Körper unerbittlich seziert und in eine abstrakte Zerrissenheit fragmentiert wird, werden die Werkzeuge, die ihn einfangen und einrahmen, gegen das Publikum gewendet, das so gezwungen ist, sein eigenes Spiegelbild zu betrachten. Die Performance bleibt überwiegend auf dieser einen Ebene der Qual, hier und da in schulterschwere Sprünge und Squats ausbrechend, hier und da von Hecheln oder schwerem Atem begleitet. Gegen Ende wird die Konstellation aus Licht, Screens und Kameras in eine Art offenen Sarg arrangiert. Umgeben von leicht verzögerten Filmbildern verzieht der Künstler das Gesicht, spielerisch, doch als würde er von einer unsichtbaren Hand gesteuert. Es entsteht ein kaleidoskopisches Tableau, eine Szene, die das letzte Bild vorwegnimmt, in dem Bonono vor der seitlichen Wand performt, während zahlreiche Silhouetten ihn jagen. Schließlich geht alles in dunkles Rot über und endet im soften Lounge-Ambiente.

„A Sensation of a Truth“ ist eine kühne und konkrete Betrachtung des Körpers, ist eine Auseinandersetzung mit der technisch-kontrollierten, fragmentierenden Perspektive und eine Destabilisierung des normativen, von der Etikette diktierten Blicks. Hier wird der Finger in die Wunde gelegt. Hier wird uns die Erleichterung angesichts eines möglichen Auswegs versagt.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


“A Sensation of a Truth” von Kévin Bonono (Choreografie, Performance: Kévin Bonono – Videoinstallation, Live Video Art und Licht: Nikita A. Zhukovskiy Trachtenberg – Live Sound Performance: Rey KM Domurat – Besondere Beteiligung: Aérea Negrot –Styling: Predrag Petrovic) wurde am 13. und 14. Januar 2023 im Rahmen der Tanztage Berlin in den Sophiensaelen aufgeführt.

Die Tanztage Berlin 2023 laufen noch bis zum 21. Januar, das Festivalprogramm und Ticketinformationen finden Sie unter tanztage-berlin.sophiensaele.com.