„Telling Stories – a version for three“, Fabrice Mazliah / Work of Act ©Jörg Baumann

Woraus die Träume eines Tisches gemacht sind

TANZPLATTFORM 2022 >>> In „Telling Stories – a version for three“ von Fabrice Mazliah / Work of Act, aufgeführt im Rahmen der Tanzplattform 2022 vom 17. bis 19. März im Radialsystem, spielen drei Tänzer*innen mit unsichtbaren Objekten, die sie gemeinsam mit ihrer Fantasie und der Fantasie des Publikums Wirklichkeit werden lassen.

Bereits als ich meinen Platz wählte, waren die Tänzer*innen Katja Cheraneva, Susanne Grau und Tilman O’Donnell in Bewegung. Sie bewegten sich mit Anstrengung und Präzision, in etwa so, als ob sie mit unsichtbaren, imaginären physischen Objekten um sie herum interagierten, oder als ob sie durch diese Objekte irgendwie eingeschränkt werden würden. Es fühlte sich an, als würde man in den Minuten bevor man auf seine Position gerufen wird, in eine Garderobe gehen und beobachten, wie alle ihre Knöpfe und ihre Perücken zurechtrücken, um sich auf ihren Auftritt für die kommende Vorstellung einzustellen.

Das Licht im Saal ging aus und die drei Darsteller*innen bewegten sich weiter, aber jetzt spielten sie gleichzeitig noch ein Fragespiel. Die Fragen drehten sich um Tische. Sie stellten sich gegenseitig Tisch-Fragen, die vom Praktischen („Katja, welche Form bevorzugst du bei einem Tisch?“) über das Emotionale („Welchen Tischen vertraust du, Susanne?“) bis hin zum Spekulativen („Tilman, was denkst du, was die Zukunft für Tische bereithält?“) reichten. Meine Lieblingsspekulation – dass ein Holztisch in einem Wald die Bäume paranoid machen könnte – war auch mein erster Hinweis darauf, dass es bei dieser Aufführung viel mehr darum ging, was Menschen auf Objekte projizieren, als um die Objekte selbst.

Ich konnte nicht umhin, das Fragespiel als eine Anspielung auf ähnliche Spiele zu sehen, die in Improvisationsübungen gespielt werden. Diese Assoziation wurde noch weiter verstärkt, als die Performer*innen begannen, ihre Bewegungen und Überlegungen mit den Rufen „Freeze!“ zu unterbrechen. Der- oder diejenige, der*die das „Freeze“ gerufen hatte, beschrieb dann das Tableau, in dem die beiden anderen Darsteller*innen schwebten, als würde er*sie ein statisches, realistisches Bild beschreiben. „Hier ist Jean beim Yoga mit seiner Partnerin im Jahr 1992, kurz vor seinem Herzinfarkt“, oder: „Hier ist eine Zeichnung von einem Kind – wir glauben, dass dies seine Schildkröte ist und diese Figur hier ist das Kind selbst“.

Während des gesamten Stücks schienen sich die Darsteller*innen auf voneinander getrennten Bewegungs-, Gedanken- und Sprachpfaden zu bewegen. Allerdings nicht parallel. Während sich parallele Linien per definitionem nie berühren, gab es bei den hier in Frage stehenden Bahnen entscheidende Schnittpunkte. Der konzeptuelle Tisch, der aus Fragen errichtet wurde, fungierte als ein solcher Schnittpunkt. Während die Performer*innen die Idee eines Tisches durch Fragen in ihren Köpfen immer wieder umdrehten und hinterfragten, war es fast so, als ob ein materieller Tisch in der Realität auf- und abflackerte. Sie forderten uns alle im Theater auf, mit derselben Idee dieses Tisches zu interagieren und nicht mit einer bestimmten Anordnung von Materialien. Indem sie sich auf die Idee eines Tisches im Allgemeinen konzentrierten, anstatt mit einem bestimmten Möbelstück zu interagieren, und indem sie den Begriff ‚Tisch‘ nicht definierten, sondern ihren Überlegungen und Gesten erlaubten, nichtlinear mit den mentalen Bildern zu interagieren,- die in all unseren Köpfen entstanden sein müssen, während wir zuschauten -, riefen die Performer*innen so etwas wie das platonische Ideal eines Tisches hervor.

Die Handlung verlagerte sich zu einer sich wiederholenden Gruppenchoreografie, die mich an ein weiteres Improvisationsspiel erinnerte, bei dem die Spieler*innen mit ihren Körpern eine fantastische Maschine bauen. Doch allmählich wurde klar, dass es sich um eine Choreografie handelte, von der alles außer den Tänzer*innen abgezogen worden war – und welche dann wieder hinzugefügt wurde. Materielle Manifestationen der Objekte, die zunächst physisch abwesend waren, die Cheraneva oder Grau oder O’Donnell aber durch ihre Worte und kollektiven Bewegungen hervorgerufen hatten, traten in die Wiederholungen ein. Nun wurde eine physische Tasche auf die Bühne gebracht und als sie ihren Platz in der Choreografie einnahm, wurde im Nachhinein klar, dass eine Geste, die Cheraneva bereits mehrere Male wiederholt hatte, in Wirklichkeit eine Pantomime war, bei der sie den Riemen der Tasche über ihre Schulter warf. Ähnlich verhielt es sich mit dem Auftauchen von Luftpolsterfolie, einem Schlüsselbund und natürlich einem Tisch. Es war eine seltsame Mischung aus Befriedigung und Enttäuschung, als würde man einen Film sehen, der auf seinem Lieblingsbuch basiert. Aber die Fantasie entwickelte sich weiter als sich die Choreografie immer wiederholte und die Objekte, die ihren Platz im bewegten Bild eingenommen hatten, durch andere Objekte ersetzt wurden, die die gleichen Räume ausfüllten, aber weniger buchstäblich. Die Rolle der Schlüssel, die ein Tänzer einem anderen zuwirft, wurde nicht mehr von Schlüsseln gespielt, sondern von einem orangefarbenen Band, das sich beim Zuwerfen entfaltete. Eine hohe, wackelige Pappröhre wurde als Garderobenständer eingesetzt. Die Hausschuhe wurden durch eine zerknitterte Tüte am Fuß von Grau dargestellt.

Ich erlebte „Telling Stories – a version for three“ weniger als eine Erkundung von Objekten an sich, sondern von menschlichen Projektionen, die sich zu Objekten verfestigen – wie Menschen Dinge formen, die auch uns formen. Die Dinge im Raum, erst imaginiert, dann real, dann „aufgeführt“ von anderen Dingen, wurden zu Zeugen der zarten, kurzsichtigen Absurdität des menschlichen Blicks. Wenn ein Tisch in einem Wald steht und niemand (menschliches) da ist, um ihn zu sehen, was fühlen dann die Bäume?

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente

Fotos: “Telling Stories – a version for three” von Fabrice Mazliah / Work of Act ©Work of Act (links), Jörg Baumann (rechts).


“Telling Stories – a version for three” von Fabrice Mazliah / Work of Act war vom 17. bis 19. März im Rahmen der Tanzplattform Deutschland 2022 in Berlin, veranstaltet vom HAU Hebbel am Ufer, im Radialsystem zu sehen.


Konzept und Choreographie: Fabrice Mazliah / Performance: Katja Cheraneva, Susanne Grau, Tilman O’Donnell / Dramaturgische Assistenz: May Zarhy / Sounddesign: Johannes Helberger | kling klang klong / Lichtkonzept: Harry Schulz & Matthias Rieker / Technische Leitung: Matthias Rieker / Kostüm: Anne-Marie Miene / Produktionsleitung: Johanna Milz