„Degrees Of Freedom“, Team Volume & guests ©Therese Witt

Scrollen bis zur Freiheit

In „Degrees of Freedom“ präsentieren Team Volume & Guests einen Re-Mix aus Träumen über Freiheit und Liebe, der vom 7. bis 10. April 2022 im DOCK 11 seine Premiere feierte.

Ich bahne mir einen Weg durch eine Ansammlung von Teenagern im Schulalter unter den Bögen des DOCK 11. Einige von ihnen plaudern miteinander, viele haben Kopfhörer in den Ohren, während sie sich aneinander kuscheln. Ich sehe, wie eine Gruppe neben mir ein „Selfie“ macht. Jeder Berliner Veranstaltungsort scheint seine eigene Art von Publikum anzuziehen, aber trotzdem bin ich überrascht von diesem jungen Publikum für „Degrees of Freedom“ von Team Volume & Guests. Meine Sitznachbar*innen sind ein Hinweis darauf, was mich während der Aufführung erwartet – eine jugendliche Anarchie der Bühnentraditionen und des Performancemachens und eine Kakophonie verschiedenster Gedanken über Liebe und Freiheit.

„Degrees of Freedom“ stellt die Produktionsarbeit der einzelnen Künstler*innnen, die meistens unsichtbar im Hintergrund geschieht, in den Vordergrund und hinterfragt Aspekte der Bühnenszenografie. Zum Beispiel ist der Aufführungsraum kahl und doch ist nichts ordentlich verstaut. Der Computer, die Kabel und die Steuerungen für die Musik und die Beleuchtung stehen gut sichtbar an der Seite der Bühne. Schwere, mit Samt überzogene Vorhänge – untypisch für einen Blackbox-Spielort – sind zugezogen und rahmen den Aufführungsraum ein. Die beiden Seile, mit denen die Vorhänge bedient werden, hängen in der Mitte der Bühne von der Decke bis auf Hüfthöhe herab, allerdings nicht mit der Präzision einer Symmetrie.

An einer Stelle während der Aufführung spielt der Lichtdesigner Asier Solana mit der Beleuchtung an verschiedenen Stellen der Bühne. Als technischer Leiter des DOCK 11 ist er mit diesem Raum bestens vertraut. Anstatt in der versteckten Enge eines Beleuchtungspults hinter den Zuschauerplätzen zu arbeiten, sehen wir ihn in Aktion auf der Aufführungsfläche. Das ist für mich ein zentraler Moment in dieser Performance. Ohne die selbstbewusste Haltung eines*einer Schauspieler*in oder Tänzer*in auf der Bühne bewegt sich Solana mit einer unbekümmerten Individualität, scheinbar nur von dem Zweck seiner Aufgabe angetrieben, während er sein Wissen in die Tat umsetzt. Mit den Lichtreglern seines Handys verändert er hier die Farben, dort die Intensität, moduliert die Muster in den mehr oder weniger hell beleuchteten Räumen, als sei dies ein Akt der Liebe zur Bühne. Er bewegt die beiden Performer*innen auf der Bühne, damit sie zu seiner Lichtarbeit passen, anstatt sie mit Licht zu versorgen, das ihre Bewegungen betont und ihnen folgt. Solanas Auswahl erzeugt einen Aufruhr von Farben, die aufeinanderprallen und miteinander harmonieren, um die Stimmung im Raum zu verändern. Rote Farbtupfer, grüne Balken, violette Profile und sogar Dunkelheit überlagern die übliche Theaterästhetik des warmen gelben Lichts.

Das Format der Aufführung erinnert mich ein wenig an kurze videobasierte Social-Media-Plattformen wie TikTok. Jede Fingerbewegung bietet eine neue Vignette in einem anderen Format, an einem anderen Ort, in einem anderen Kontext und zu einem anderen Thema. Man kann nicht vorhersagen oder kontrollieren, was als Nächstes kommt, wenn man in einen endlosen Abgrund von digitalen Inhalten scrollt. In ähnlicher Weise präsentiert „Degrees of Freedom“ einen Strom von Schnappschüssen in Bewegung, Licht, Sprache und Ton. Jedes aufeinanderfolgende bewegte Tableau nähert sich tangential Ideen von Freiheit, Begegnung, kollektiven Bindungen, Liebe und Einsamkeit. Wir sehen Einblicke in die Arbeit der Mitglieder von Team Volume (und die ihrer befreundeten Künstler*innen, die sich ihnen für dieses Projekt angeschlossen haben), die sich gegenseitig beeinflussen und den „Inhalt“ unterstreichen.

Die kurzen Tauchgänge, die jeder Teil der Performance bietet, lassen mich daran denken, wie der Weg zu Freiheit und Liebe voller Ablenkungen ist. Die Digitalisierung liefert uns mit scheinbarer Leichtigkeit Weltnachrichten, Tinder-Dates und Wordle-Herausforderungen – aber sie ist auch eine Repräsentation der Realität, gespickt mit Filtern und Frames, die uns ein Simulakrum, eine unbefriedigende oder getönte Imitation des Realen bieten. In „Degrees of Freedom“ sehen wir Therese Witt (Kostüm und Video), wie sie zwei der Performer*innen bei einem langen leidenschaftlichen Kuss mit ihrer Handykamera einfängt. Das von ihr aufgenommene Bild wird dann auf die Rückwand projiziert. Innerhalb ihres sich bewegenden Kamerarahmens sehen wir manchmal ihre geneigten Gesichter, die sich küssen, und in anderen Momenten die Hände, die die Hüften des anderen umarmen. Diese Manipulation des Kamerabildes schafft für mich einen surrealen Moment, in dem das repräsentative Bild für das Auge verlockender ist als das reale Ereignis. Auch ein anderer Teil der Performance greift diesen Gedanken auf. Auch wenn die Performer*innen sich kreuzen, eng beieinander stehen, ihre Körper einander streifen oder sich sogar aneinander lehnen, scheint jeder*jede von ihnen in seiner*ihrer eigenen privaten Welt gefangen zu sein. Alle halten ein Mobiltelefon in der Hand und die Bewegungen und Zuckungen ihrer Hände stehen im Einklang mit Jacob Stoys elektronischer Musik. Doch nicht ein einziges Mal treffen sich ihre Blicke. Stattdessen sind sie an ihre Bildschirme gebunden.

Die Choreografie von Johanna Strauß-Lemke, ein wuchtiger Monolog des Schauspielers Tilman Strauß, poetische Textfragmente, das Bühnenbild von Teresa Monfared sowie Licht- und Klangelemente wirken wie Kommentare zur Freiheit durch verschiedene Register. Die augenzwinkernde Anarchie und das Aufbrechen von Formhierarchien, die „Degrees of Freedom“ erforscht, bringen ein Gefühl des Zufalls, des Risikos und der vermeintlichen Unvollkommenheit mit sich – und damit auch die Möglichkeit des Neuen in jeder Aufführung. Mit ihren unvorhersehbaren Inhalten im Social-Media-Stil überrascht mich die Performance, indem sie sich über klare Anfänge und Enden und sogar über Vorstellungen von Vollendung in jedem Segment des „Inhalts“ hinwegsetzt. Vielleicht ist es das, was mir am Ende der Stunde das Gefühl gibt, keinen Halt in der Performance zu finden.

Unerfüllt.

So fühle ich mich auch nach jedem Abstieg in das Kaninchenloch von YouTube. Ein Freund von mir in Indien hat mein YouTube-Premium-Abonnement bezahlt und eine Zeit lang fühlte ich mich selbstgefällig über meine Fähigkeit, all diese werbefreien Inhalte zu genießen. Ich dachte, ich hätte das System geknackt. Jetzt frage ich mich jedoch, ob ich es bin, die vom System gehackt wurde. Bin ich wirklich frei oder bindet mich der Bildschirm?

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente


“Degrees of Freedom” von Team Volume & Guests mit Johanna Lemke, Jacob Stoy, Therese Witt, Teresa Monfared, Tilman Strauß und Asier Solana war vom 7. bis 10. April 2022 im DOCK 11 zu sehen.