„YEW:kids“, Angela Schubot & Jared Gradinger in Zusammenarbeit mit der Natur © Sebastian Runge

Wildwüchsiges Kleinstpublikum

Mit „YEW:kids“, der auf dem diesjährigen Festival für allerkleinstes Theaterpublikum FRATZ International gezeigten Kinderversion von „YEW:outside“, stößt der posthumanistische Ansatz des Duos Schubot & Gradinger auf eine unmittelbare physische Resonanz.

„Was machen die da?“ fragt Nele, die neben mir an einem Erdloch sitzt. Ich sage: „Ich weiß es nicht. Was meinst Du?“. Stille. Dann steht das Mädchen, mit dem ich vor circa zehn Minuten in Gegenwart eines musikalischen Sauerampfers Bekanntschaft schloss, auf und geht zu den anderen Kindergartenkindern. Sie wuseln voller Neugier um Angela Schubot und Lea Kieffer herum. Die beiden Tänzerinnen sind in ein symbiotisches Duett versunken und scheinen die kleinen Besucher*innen nicht zu bemerken. 

„YEW:kids“ (dt. Eibe) ist eine naturnahe Open-Air-Performance von Angela Schubot und Jared Gradinger für Menschen ab drei Jahren, produziert vom Theater o.N., das in diesem Jahr zum vierten Mal das spartenübergreifende Theaterfestival FRATZ International ausrichtete. Unter dem Motto „Eine andere Welt“ waren für die aktuelle Ausgabe erfreulicherweise erstmals auch Künstler*innen aus der zeitgenössischen Berliner Tanzszene vertreten. Sie nutzten und schufen Refugien im öffentlichen Stadtraum oder ließen ihre eigene, im Berliner Umland verwirklichte soziale Utopie im nüchternen Konferenzraum des Podewil lebendig werden. Als besonderes Erlebnis erwies sich dabei Schubot & Gradingers im Botanischen Volkspark Blankenfelde-Pankow aufgeführte Kinderversion von „YEW:outside“, die durch das sehr junge Publikum eine unerwartete Erweiterung erfuhr. 

Im Sonnenschein, zwischen Bienenstöcken und Obstbaumallee stimmt Angela Schubot die Kinder auf eine Begegnung mit Lebewesen ein, die weder Augen noch ein Vorne haben, wie etwa ein Baum. Und auf solche, die unsichtbar seien, wie etwa Körperwärme. Der vierzigminütige Performance-Spaziergang führt die Gruppe, zu der auch ein paar große Kinder vom Fach gehören (Performing Arts für Kinder und Jugendliche, Puppenspiel, Pädagogik und Tanzjournalismus), durch Wiesen, Felder und ein angrenzendes Waldstück. Angela Schubot (Choreografie & Performance), Stefan Rusconi (Sound) und Lea Kieffer (Performance, in Vertretung für Jared Gradinger) bereiten die Teilnehmer*innen ganz sinnlich auf die extreme Körper-zur-Natur-entgrenzende Bewegungssprache von Schubot & Gradinger vor. 

Wie bei einer Heilkräutertour probieren wir Blätter vom Sauerampfer und erfahren, dass auch Pflanzen eine Sprache haben und in Interaktion zu ihrer Umwelt stehen: Die Bio-Impulse des Sauerampfers werden per App – exemplarisch für die gesamte Flora („Beifuß, Brennnessel, Buche, …“) – in Harfen-und Schlagzeugklänge umgewandelt. Während einer Kreiszeremonie rufen wir mit kleinen, kantigen, schlängelnden und flatternden Handgesten das Mineral-, das Pflanzen- und das Tierreich an und „pflanzen“ uns mit Händen oder Füßen in kleine Erdlöcher „ein“. Kurzum, wir tun Dinge, die einen körperlich-sinnlichen sowie intuitiven Zugang zur Welt ermöglichen. Es entstehen Momente, die an auf Vernunft gründenden gesellschaftlichen Werten rütteln – an einem etablierten Konstrukt von Welt, das uns nach wie vor ermöglicht, unsere (vermeintliche) Vormachtstellung in der Hierarchie der Lebewesen aufrecht zu erhalten.*

Angela Schubot und Lea Kieffer sitzen Rücken an Rücken und mit embryonal angezogenen Armen und Beinen auf der Wiese. Ihre pulsierenden, die Körper zusammenziehenden und öffnenden Bewegungen und ihr selbstvergessener Abwesenheitsblick lässt sie zu einem seltsamen Wesen verschmelzen. Die Kinder reagieren irritiert bis fasziniert: „Das gibt es doch gar nicht“, wiederholt der größte Junge in der Gruppe immer wieder und geht auf das physische Mysterium zu als müsse er etwas dagegen unternehmen. Er kitzelt Schubot und Kieffer an den Füßen, keine Reaktion. Ein anderes Kind sagt: „Jetzt sind die Menschen zu Pflanzen geworden.“ Plötzlich hat sich die Traube aufgelöst und die Kinder erkunden in kleinen Grüppchen und in friedlicher Co-Existenz zum Duett der Tänzerinnen die nahegelegene Umgebung. Mit ansteigender Dynamik in der Choreografie schwärmen sie wieder zu Schubot und Kieffer zurück. Der kleine Pulk läuft laut quiekend mit der bewegten Körperskulptur mit und reagiert auf jede Bewegungs- und Richtungsveränderung unmittelbar. 

Später, bei einem meditativen Schweigespaziergang treffen die durch ein Seil miteinander verbundenen Kinder am Wegesrand auf geheimnisvolle Töne und zwei wie kopfüber eingebuddelte, nackte Körper in Rückenansicht. Zwischen umgekippten Bäumen und zu Zelten verquickten Ästen dürfen sie die Bewegungen von Schubot und Kieffer zum Abschluss der Performance durch Laute begleiten. Manche klingen aggressiv, als wollten sie sich einmischen, manche begleiten einfach ohne Intention. Ein Mädchen heult inbrünstig wie eine kleine Wölfin. Als die beiden Tänzerinnen nach dem ekstatischen Höhepunkt ihrer Choreografie, Rücken an Rücken sitzend, ihre Köpfe abrupt in Richtung Himmel strecken, sagt ein Kind: „Ich habe Dich da eben gesehen im Wald, mit dem Kopf in der Erde“. Angela Schubot antwortet: „Nee, das kann nicht sein. Ich bin doch geflogen. Da oben.“

*„The Nature of Us“, das letzte Stück der posthumanen Werktrilogie von Schubot & Gradinger bricht mit den vorhergehenden Aufführungen. An die Stelle einer harmonisch-verbindenden Atmosphäre tritt ein dystopisch anmutendes Szenario, an dessen Ende eine Gruppe von Zuschauer*innen symbolisch unter den Schutz der Performer*innen gestellt wird. Vermutlich hätte die Pflanzenwelt nach einer Katastrophe mehr Chancen zu überleben als die Menschen …