„The Clearing“ von Jeremy Wade am HAU2 verbindet Travestie und Tragödie zu einem stimmig heilenden Katastrophenszenario
Die Katastrophe muss sich ereignet haben. Im weißen Schutzanzug, mit Gasmaske, kniet Jeremy Wade auf einem Häufchen aschener Fetzen, akustisch umhüllt von sanft verstörendem Klanken, Rütteln, Schrubben. Säuberlich räumt er den Haufen mit behandschuhten Händen schließlich in einen Behälter, der aussieht wie eine Instrumentenhülle, nicht wie ein Müllsack. Verstaut ihn mit abgezirkelten Bewegungen in seinem Karren, der an eine Putzkolonne denken lässt, an Obdachlosigkeit oder einen fahrenden Schausteller. Wundersam!
Oszillierende Bedeutungen erschafft Jeremy Wade in seiner neuesten Arbeit, „The Clearing“ am HAU2. Auch der Titel ist doppeldeutig, meint „clearing“ doch einerseits die Lichtung (lieblich) und andererseits den Kahlschlag (brutal). Zeit lässt sich Wade für seine Kreation: Im Nachhinein muten die ersten 80 Minuten an wie eine lange Hinführung auf die abschließenden 20 Minuten. Nach der anfänglichen Rückstandsbeseitigung jedenfalls scheint Wade erst einmal die Bühne rituell-ekstatisch reinigen zu wollen. Zu Techno-Beats schreitet er im Laser-Grid-markierten 3D-Raum eckig umher, stolzierend wie ein Paradiesvogel. Schneller werden die Beats und eindeutiger tanzbar, Wade clubbt ein wenig, greift sich dann aus seinem sorgfältig getürmten Equipment eine Quaste, die er schüttelt, kreisen lässt und schwingt wie in einem vergessenen Volkstanz, versunken in (s)ein geheimes Ritual. Im Soundtrack von Marc Lohr, der in einem DJ-Büdchen am linken Bühnenrand sitzt, klingen gar Kuhglocken und Alphörner an, und Wades petrolfarbener Latexanzug mit den Seitentaschen an kurzen Hosenbeinen wirkt plötzlich wie eine Lederhose. Gayfolk! Vielleicht ist’s auch eine Geister-Austreibung – oder eine Gymnastikübung? Als Sportgerät schwingt Wade zwei unterarmlange Keulen, mit Kick und eleganter Rückbeuge. Wehrhaft, aber auch wie stilisierte Flügelchen steckten sie hinten in den überkreuzten Trägern seines hauteng glänzenden Anzugs, und man wäre nicht überrascht, wären’s zweckentfremdete Kartoffelstampfer.
Wade erscheint als wechselhaftes Wesen: Hipster und Hinterwäldler, Schrat und Schamane, Geck und Gestaltwandler, Zauberer und Zausel – you get it. Geduld fordern seine choreografischen Verrichtungen, zu denen sich noch ein mmmmh-lastig gecroonter Stimm-Loop vor geisterhafter Geräuschkulisse gesellt, bevor Wade aus seinen inneren Welten auftaucht und die Bühne mit Sentiment flutet: Wie ein Baby hält er ein Sanduhr-förmiges leuchtendes Plastikobjekt im Arm. Zärtlich-lockend spricht er es an: „Hey!“ – Innige Hingabe. Wade wickelt sich und das geliebte Objekt in ein buntes Tuch, das im Scheinwerferlicht leuchtet wie die Stoffkreationen von Loïe Fuller. Im Hintergrund lässt Marc Lohr Klangflächen wabern, die an Philip Glass’ „Koyaanisqatsi“-Soundtrack erinnern. Eine Weile dauert diese Underground-Version von Disney-Romantik mit Dickens-Touch, doch das Trügerische ist ihr klanglich bereits unterlegt: Starr sinkt Wade unter stimmungsvoll rieselnden, gleichwohl schwarzen Flocken zusammen. Als er sich wieder regt, stöpselt er das liebkoste Lemniskaten-Trumm von der Nabelschnur-Kordel, die es mit einem Rettungsschwimmerpack an seinem Gürtel verbunden hatte. Bettet es auf den Bühnenboden. Und stimmt offenen Mundes ein Trauerheulen an.
Tod! Tod! assoziiert man, und weil Wellenschwappen zu hören ist, auch: Flucht!, wenn Wade mit im Scheinwerferlicht glitzerndem Speichelfaden die nun liegende Acht einwickelt und behutsam mit einer Rettungsweste umgürtet. Das Foto des toten Aylan Kurdi am Strand schießt durchs Hirn und rumort im Magen, obgleich Wades Hantieren mitunter haarscharf an Kitsch und Komik entlangschrammt. Aber da kommt ja schon eine neue Episode aufs Tapet, wieder eingeleitet durch das eher patscherte Verstauen der Requisiten auf dem Handkarren. Die Laser projizieren eine pyramidale Gitterstruktur, auf der Wand wabert eine konturlose Figur, tanzend an einem Karibikstrand, und Wade, der sich als Tourist mit Sonnenschutz kostümiert hat, die Augen von einem Lämpchen gespenstisch beleuchtet, wird zum Führer in die Verdammnis. Dantes „Göttliche Komödie“ zitiert er in der detaillierten Beschreibung eines rostig-rottenden Kreuzfahrtschiffes, das vor giftfarbenem Horizont über eine turbulente See navigiert, mit uns Zuschauer*innen als Passagieren auf Ewigkeit: „Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“
Scheinbar erlöst werden wir, nach einer irritierenden Pause kurz vor Schluss, in der Schiffs-Show: es performt Puddles the Pelican. Wade tritt uns im schwarz-fleddrigen Glitzerfummel zu roten Leggins gegenüber. Singt mit klarer Stimme und herrlich schrägem Krah-rah vom sorglosen Vogelleben im South Atlantic Garbage Patch – bis das Öl blubbert, sein Gefieder verklebt und das Leben seiner Pelikanschwester endet. Stimmig ist das Changieren zwischen Travestie und Tragödie. Zu den Popzitaten – Michael Jacksons „Earth Song“ und Queens „We will rock you“ – wird gelacht und mitgeklatscht. Doch recht abrupt kippt uns Wade aus seiner Darbietung. Plopp platzt die Blase. Was bleibt nach der knapp zweistündigen Performance der Kippbilder, die auf intuitiv ansprechende Weise queer ist, wenn auch bisweilen allzu verrichtungsselig? Eine klare Botschaft, ein Schlag mit der Axt der Erkenntnis: Zur Hölle fahren wir, wenn wir die Arche Erde in ein Waste Land verwandeln. Unsere Katastrophe steht noch bevor.