Wie steht es um die Zugänge zur Kunstform Tanz, insbesondere auf Seiten der Macher*innen? Wie öffnen sich Ausbildungsinstitutionen des zeitgenössischen Tanzes, um die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden? Einige Erkundungen zwischen positiven Entwicklungen und den Gefahren des Tokenismus.
Von Astrid Kaminski und Elena Philipp, 26. April 2019
In den Debatten um den allzu weißen Theaterbetrieb scheint der zeitgenössische Tanz fein raus zu sein, vor allem in Berlin: Internationale Performer*innen auf der Bühne in fast allen Produktionen, eine vielfältige Community an Tanzschaffenden, dazu mit dem Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) eine Ausbildungsstätte, die ihren Lehrplan auf postkolonialer und queerer Theorie gründet. Klingt erst einmal gut. Genauer hinzusehen lohnt dennoch. Wie divers ist die Berliner Tanzszene tatsächlich? Und was sind die Indikatoren dafür?
Entstehungsgeschichtlich ist der zeitgenössische Tanz zweifelsohne eine westliche, weiße Kunstform. Wie aber gelingt es ihm, mehr als 100 Jahre nach seiner Entstehung, den Pluralismus der Gesellschaft, in der wir leben, zu reflektieren? Wie baut er Barrieren ab, um sich einer Welt im Wandel zu stellen? Insbesondere mit Blick auf die öffentlich geförderten Hochschulen, die eine Gatekeeper-Funktion haben, gehen wir, das Autorinnen-Duo* Philipp Kaminski, diesen Fragen ein Stück weit nach.
Während unserer mehretappigen Gespräche zum Thema kam ein wichtiger Impuls von einem Heft, das Ende letzten Jahres die Runde machte. Über die Tänzerchoreografin Maria F. Scaroni fiel es uns in die Hände. „Questioning Contact Improvisation“ heißt der schmale Band von Keith Hennessy. Der für seine Community-Experimente bekannte US-amerikanische Tänzer und Choreograf überlegt darin, warum die Kontaktimprovisation, die zur Standardtechnik des zeitgenössischen Tanzes gehört, vorwiegend weiß und heterosexuell konnotiert ist. „Welche Ausschlusskategorien gibt es?”, fragt er, oder: „Wie reproduziert sich weißeVorherrschaft?“, „Wer hat das Sagen?“. Etliche seiner Fragen werden seit einigen Jahren mit Nachdruck gestellt. Andere stehen in der breiten Diskussion nur selten im Fokus: „Wer macht sauber?” zum Beispiel. Oder: „Wenn der Beruf des Tanzschaffenden die Selbst-Prekarisierung voraussetzt, also ökonomische Unsicherheit und soziale Marginalisierung, inwiefern befördern oder verhindern dann die Werte und Ansprüche migrantischer Communities die künstlerischen Karrieren ihrer Mitglieder?” Heißt: Wer kann und will es sich leisten, als Tänzer*in oder Choreograf*in zu arbeiten? Wer findet einen Zugang zur Kunstform? Und darüber hinaus: Wer befindet sich in leitenden und geförderten Positionen?
Realitätscheck Diversität in der Berliner Szene
Wie umfassend Teilhabe gedacht werden muss, ist in der Studie „Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors“ von Joshua Kwesi Aikins und Daniel Gyamerah nachzulesen. Ziel diversitätsbewussten Handelns müsse es sein, Zugänge zu ermöglichen für Menschen, „die aufgrund unterschiedlicher Ausschlüsse nicht zur Mehrheitsgesellschaft gezählt werden und/oder nicht an öffentlich geförderter Kultur teilhaben“, heißt es dort. „Dazu gehören beispielsweise Menschen mit Rassismuserfahrung, mit Behinderung, mit nicht heteronormativer sexueller Orientierung und/oder Geschlechteridentität sowie Menschen aus beim Bildungszugang und/oder ökonomisch benachteiligten Familien.“
Wie die von Aikins und Gyamerah genannten Gruppen derzeit im Tanz vertreten sind, lässt sich nur schätzen – Zahlen zur Diversität im Berliner Kultursektor gibt es nicht, wie die Senatsverwaltung für Kultur auf Anfrage mitteilt und das senatsgeförderte Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung, Diversity Arts Culture, sowie die Kulturstiftung des Bundes, die auch auf nationaler Ebene nicht über Statistiken oder belastbare Zahlen verfügt, bestätigen.
Daher erst einmal ein Realitätscheck beim Blick in die Berliner Szene: Wie divers ist zum Beispiel das Personal? Neben Programm, Publikum und Zugängen ist das Personal eine der Dimensionen, in denen sich diversitätsorientierte Organisationen, wie Aikins und Gyamerah schreiben, selbst überprüfen müssen. Unproblematisch ist ein oberflächliches Abarbeiten dieser Frage jedoch nicht, da andere Kriterien als ethnische Herkünfte und binäre Genderfragen weitgehend außen vor bleiben müssen (– beispielsweise ist die exemplarische Frage, wer eigentlich die Toiletten putzt, von Organisationen oftmals nicht leicht zu beantworten, da solche Aufgaben meist an Dienstleister ausgelagert sind). Eine Erfassung erforderte eigentlich – auch das wird in Gesprächen deutlich – ein Umdenken. Mit bloßen statistischen Erhebungen nach der Ja/Nein-Methode ist es nicht getan. Vielmehr müssten relevante Kategorien und Befragungsformen in Konsultationen mit den betreffenden Gemeinschaften und unter wissenschaftlicher Begleitung erarbeitet und erprobt werden, wie es auch in der oben genannten Diversifizierungs-Studie heißt.
Dennoch zeigt ein Streifzug durch die Institutionen und Förderbescheide eine Szene in Bewegung mit unterschiedlichen Fokussierungen im Diversitätsmaßstab: Das Staatsballett Berlin wird ab Sommer 2019 mit Johannes Öhman und Sasha Waltz von einer schwedisch-deutschen, männlich-weiblichen Doppelspitze geleitet. Direktorin am HAU – Hebbel am Ufer ist die Belgierin Annemie Vanackere, die anderen verantwortlichen Positionen am HAU werden ebenfalls von weißen Europäer*innen besetzt. In den Sophiensælen sind die verantwortungsvollen Positionen allesamt an Frauen übergeben, darunter mit Joy Christin Kalu an eine Dramaturgin nicht-weißer Herkunft. Das Ballhaus Naunynstraße hat mit Wagner Carvalho einen nicht-weißen Leiter, weitere Leitungspositionen gibt es an dem kleinen Theater nicht (mehr).
Die in Berlin am besten geförderten Choreograf*innen kommen aus Europa, Israel, den USA, Südamerika oder Australien und sind vorwiegend weiß – auch wenn sich diese Situation in den letzten Jahren verändert hat. Ligia Lewis, Zwoisy Mears-Clarke und Modjgan Hashemian gehören mittlerweile zu den geförderten Choreograf*innen, ebenso Ariel Efraim Ashbel, der sich als „brauner Israeli“ bezeichnet. So gut wie keine Berliner Förderungen gehen an Choreograf*innen aus afrikanischen Ländern. Ein in Berlin etablierter Tänzer und Choreograf wie Ahmed Soura, der aus Burkina Faso stammt, sieht sich daher als Vorreiter und versucht, laut eigener Aussage, einer Vorbildfunktion gerecht zu werden. Am meisten Künstler*innen nicht-weißer Herkunft finden sich unter den Tänzer*innen. Auffällig ist allerdings, dass wenige in Deutschland aufgewachsene Personen aus migrantischen Kontexten dabei sind.
Tanzschaffende mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen gibt es in Berlin bislang nur vereinzelt, aber hier setzt seit kurzem das Förderprogramm Making a Difference an. Psychische Beeinträchtigungen, wie der Brite James Leadbitter sie beispielsweise in seinen Arbeiten thematisiert, sind bislang die Ausnahme, durch das Inklusionsfestival No Limits jedoch immerhin auf die Tagesordnung gesetzt worden.
Tanzkarriere als Klassenfrage
In der Tendenz zeigt sich also, dass mehrere Kriterien der Diversität bereits erkannt und umgesetzt wurden. Wenig Aufmerksamkeit hingegen richtet sich auf sozio-ökonomische Nachteile oder Fragen der Subalternität. Bezeichnenderweise fehlt diese Dimension auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, das seit 2006 den Rechtsrahmen bietet, um Benachteiligungen zu verhindern oder zu beseitigen. Daher wollen wir in diesem Text im Folgenden versuchen, durch Fragerichtungen und Gesprächsergebnisse zu einer weiteren Beschäftigung beizutragen.
Wie entscheidend die sozio-ökonomische Ausgangslage als maßgeblicher Faktor für den Zugang zum zeitgenössischen Tanz ist – auf Seite der Macher*innen mehr noch als im Publikum – zeigt sich durch einen Blick auf migrantische Gesellschaften gut. In den Sozialwissenschaften bekannt ist, dass Kinder, die in der zweiten oder dritten Generation ehemaliger Gastarbeiterfamilien aufwachsen, zunächst auf solide, existenzsichernde Studiengänge wie Ingenieurswissenschaften, Jura oder Medizin bauen. Tanz zählt in diesen Gesellschaftsschichten allenfalls als Freizeitbeschäftigung.
Beobachtet hat das auch die türkisch-armenischstämmige Berliner Choreografin und studierte Soziologin Jasmin İhraç: Wer tanzt, sei eher eine Frage der Klasse als der kulturellen Herkunft oder gar Ethnie. Besonders der zeitgenössische Tanz scheint dabei nur bestimmten Schichten vertraut zu sein oder wird von ihnen gar als Berufsmöglichkeit in Betracht gezogen: „Sagt man, man sei Tänzerin, denken bürgerliche Menschen an Ballett, Menschen außerhalb des ‚Hochkultur-Kontextes’ an Showdance“, so İhraç. Zeitgenössischer Tanz werde dabei generell nicht als eigenständige Sparte wahrgenommen.
Schaut man auf weniger wohlhabende Regionen der Welt, wirkt die Frage nach der Tanzkarriere ohnehin wie ein First World Problem: In Ländern ohne soziale Absicherung ist die Frage der Berufswahl existentiell. Der Tänzer Robert Ssempijja, der – wie Ahmed Soura – in Produktionen von Christoph Winkler tanzte, arbeitet in seinem Herkunftsland Uganda in einer Situation, in der Kinder an Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung sterben. Zeitgenössischer Tanz werde an einer einzigen Universität der Hauptstadt Kampala angeboten und diese sei eine der teuersten. Für Kinder, die in das von ihm mit begründete Kulturzentrum kommen, sei eine Tanzausbildung unerschwinglich.
Finanzielle Barrieren abbauen
Wenn also der zeitgenössische Tanz das Image einer eher elitären Berufswahl hat, wie kann er sich für andere Erfahrungen und Realitäten öffnen? Welche Zugänge gibt es für Menschen unterschiedlicher Herkünfte – insbesondere sozio-ökonomischer – an den öffentlich geförderten Ausbildungsstätten in Berlin? Als Vergleichsgröße ziehen wir zu dieser Frage auch die Brüsseler Ausbildungsstätte P.A.R.T.S. mit ein, die derzeit wohl renommierteste Adresse für Zeitgenössischen Tanz.
Eine Zugangs-Barriere stellen zweifellos die Kosten für das Studium dar, selbst wenn im deutschen Hochschulsystem keine exorbitanten Studiengebühren anfallen und es unterstützende Maßnahmen wie das BAföG gibt. Die Lebenshaltungskosten allerdings müssen Studierende bzw. ihre Angehörigen schultern können. Im zeitgenössischen Tanz gilt, mehr noch als im Ballett, was Steven de Belder, Research-Leiter bei P.A.R.T.S. beschreibt: „Meist wagt sich ans Risiko einer prekär finanzierten Karriere nur, wer sozial und finanziell ausreichend abgesichert ist. Die meisten Studierenden kommen aus sozial stabilen Verhältnissen.“ Zeitgenössischer Tanz als Berufsperspektive sei zu unsicher für Menschen ohne finanzielles Backup.
An der Staatlichen Ballettschule Berlin hat Schulleiter Ralf Stabel die Initiative ergriffen, um auch Studierenden aus ökonomisch weniger gut aufgestellten Familien eine Ausbildung zu ermöglichen. Für Aufwendungen, bei denen Studienfördermöglichkeiten wie BAföG oder Stipendien wie das der Studienstiftung des Deutschen Volkes nicht greifen, spricht er gezielt vermögende Unterstützer*innen an. Erstellt hat die Schule dafür eine detaillierte Liste von Fördermöglichkeiten, von Taschengeldzuschüssen bis hin zu den Studienkosten für ein ganzes Semester.
Das Aufbauen eigener Fördertöpfe ist für eine Hochschule allerdings die Kür, keine Selbstverständlichkeit. Wie etabliert die Schulen bereits sind und wie gut ihr Verwaltungsapparat ausgestattet ist, scheint dafür eine Rolle zu spielen. So hat P.A.R.T.S. inzwischen durch mehrere Förderprogramme einen Stipendientopf geschaffen, aus dem für die relativ hohen Studiengebühren pro Jahrgang 7-8 Vollstipendien im Wert von 9.000 bis 10.000 Euro jährlich angeboten werden können. Die Gelder dafür werden über EU-Förderanträge akquiriert, die jedoch eigentlich nicht auf eine Studienförderung zugeschnitten sind. So kann die renommierteste Tanzhochschule Europas nur mit hohem Aufwand und persönlichem Einsatz sowie unter großer Ungewissheit von Förderzusagen überhaupt Stipendien anbieten.
Auch am Berliner HZT ist das Problem bekannt. Noch kann die 2006 gegründete Hochschule für zeitgenössischen Tanz jedoch keine eigenen Stipendien zur Verfügung stellen. Studierende, die nicht voll von der Familie finanziert werden, sind auf Nebenjobs angewiesen, auf Fördermöglichkeiten aus den Herkunftsländern, die sehr unterschiedlich ausfallen (zwischen einem mit 30.000 Euro jährlich dotierten Fulbright-Stipendium und keinem Cent), oder auf das Deutschlandstipendium. Letzteres deckt mit 300 Euro monatlich zwar nicht annähernd die Lebenshaltungskosten, ermöglicht HZT-Direktor Nik Haffner zufolge aber dennoch eine spürbar größere Konzentration auf das Studium.
Als weiteres Zugangsproblem nennt Haffner die Fristen zwischen Bewerbungsauswahl und Auditions: Da das Ausschreibungsprozedere mit den anderen Studiengängen der Universität der Künste (UdK), an die das HZT assoziiert ist, abgestimmt werden muss, liegen nur etwa sechs Wochen zwischen Einladung und Audition. In dieser kurzen Zeit ist die Bewilligung von Visa nicht immer gewährleistet. Vor allem männliche Bewerber, beispielsweise aus dem Iran, seien betroffen – von Seiten der deutschen Behörden und Konsulate wird, wie Kulturinstitutionen immer wieder erfahren müssen, der Rückkehrwillen lediger, junger Männer in Zweifel gezogen. Darüber hinaus stellen die Konditionen für ein Aufenthaltsvisum ein Problem dar: Studienanwärter aus afrikanischen und den meisten asiatischen Ländern brauchen entweder eine Bürgschaft oder ein Sperrkonto auf ihren Namen mit rund 8.000 Euro Guthaben. Leisten können sich das nur gut situierte Familien. Um solchen Beschränkungen begegnen zu können, schwebt auch Haffner die Gründung eines Freundeskreises vor.
Aktuell hat beim HZT die Auseinandersetzung mit einer weiteren Beschränkung Vorrang: 2017 hat die UdK festgelegt, dass alle Studienerwerber*innen mindestens Deutsch auf A2-Niveau für ihre Immatrikulation vorweisen müssen. Diese Entwicklung wirkt wie ein schwer nachvollziehbarer Rückschritt und könnte das HZT im Kontext internationaler Tanz-Kaderschmieden weit zurückschlagen. Zu Recht befürchtet Haffner, dass die Talente aufgrund dieser Vorgaben Ausbildungen in anderen Städten und Ländern vorziehen werden. Unverständlich ist, warum die vorherige Regelung nicht beibehalten wurde: Dabei musste nach zwei Semestern eine A2-Prüfung abgelegt werden, mit Chance auf Wiederholung im dritten Semester. Das hätten bisher, so Haffner, alle Studierenden geschafft. Auch an der Staatlichen Ballettschule, die neben dem BA-Studiengang vor allem die schulbegleitende Ausbildung anbietet und an der alle Lehrenden als Dozent*innen für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) qualifiziert sind, erwerben die vergleichsweise zahlreichen internationalen Studierenden die Sprachkenntnisse ausbildungsbegleitend – eine praxistaugliche Lösung.
Lokale Gegebenheiten einbeziehen
Was die Spiegelung der Einwanderungsgesellschaften der jeweiligen Länder und ihrer pluralistischen Gesellschaftsstruktur im Profil der Studienanwärter*innen betrifft, kommen von Steven De Belder und Nik Haffner ähnliche Beobachtungen. Bei P.A.R.T.S. sind die meisten Bewerber*innen aus Belgien weiße junge Frauen ohne Migrationshintergrund. Dass sich nur wenige Interessent*innen aus der deutschen Einwanderungsgesellschaft finden, bestätigt auch Haffner, beobachtet aber durchaus langsam eine gegenläufige Entwicklung. Die hänge vor allem damit zusammen, dass sich das Interesse des HZT an anderen Tanzstilen als dem sogenannten zeitgenössischen Tanz herumspricht. Inzwischen bewerben sich auch Studieninteressierte, die aus Urban-Dance-Kontexten, aus dem Flamenco oder indischen Tanz kommen.
Prägend ist in dieser Hinsicht für Haffner die Initiative seines Göteborger Kollegen Mick Willson: An der dortigen Kunsthochschule fiel auf, dass es, wie am HZT oder bei P.A.R.T.S., zwar viele internationale Studienbewerber*innen gab, sich aber so gut wie keine jungen Menschen mit Migrationshintergrund aus Göteborg selbst oder aus Schweden bewarben, obwohl einige dieser Zielgruppen durchaus in der Stadt künstlerisch aktiv waren. Ein blinder Fleck – wie ihn ähnlich auch das Diversifizierungsgutachten von Joshua Kwesi Aikins und Daniel Gyamerah für Berlin anmerkt: „Es gilt, eine diversitätssensible Öffnung nicht auf Internationalität zu reduzieren, sondern die Berliner Glokalität, d.h. die lokal vorhandene, diasporisch international vernetzte Vielfalt, zu adressieren und repräsentieren.“
Die Göteborger Hochschule startete eine Kampagne, die sich an die bislang nicht adressierten Gruppen vor Ort wandte. Das Ergebnis: Innerhalb kurzer Zeit stiegen die Bewerbungen aus genau dieser Zielgruppe. Mick Willson begründete die Kampagne damit, dass eine Kunsthochschule eine kulturell aktive Position in einer Stadt einnehme und man diese Position und das Potential nicht an bestimmten Bevölkerungsschichten vorbei leiten, lenken, gestalten sollte. „Dem kann ich sehr zustimmen“, so Nik Haffner.
Privilegien in Frage stellen
Am Interesse, mit dem die Befragten sich dem Abbau von Barrieren widmen sowie auf Eigeninitiative Statistiken zu den Herkünften ihrer Studierenden erheben, zeigt sich, dass Teilhabe ein Thema ist. Es zeigt sich aber auch, wo die Grenzen des Engagements von Hochschulen liegen beziehungsweise wie hochschulinterne Regelungen Etappenziele auch wieder rückgängig machen können. Darüber hinaus aber ist, insbesondere auf die sozio-ökonomische Situation und nationale Herkünfte bezogen, die Politik gefordert, um die Konditionen der Chancengleichheit herzustellen und wirksam Zugänge zu schaffen. Diversitätspolitik, die sich allein auf Repräsentationspolitik konzentriert – Stichwort: Tokenismus –, ist noch lange kein Mittel, Teilhabe in einer pluralistischen Gesellschaft zu gewährleisten.
Allerdings muss auch nicht in jeder Beziehung auf die Politik gewartet werden. Modellsituationen zu schaffen, steht nicht nur Hochschulen, sondern auch Studierenden und Künstler*innen offen. Von einer Selbstverpflichtung Kunstschaffender aus vermögenden Verhältnissen, Kolleg*innen in prekären Situationen zu unterstützen, ist die Berliner Szene zum Beispiel weit entfernt. Der einstige Vorschlag des Choreografen Jeremy Wade, von jeder Förderung Gelder für nicht-geförderte Kolleg*innen abzuzwacken, war eine der sehr wenigen sozio-ökonomischen Initiativen der letzten Jahre. Umgesetzt wurde sie auch nicht ansatzweise. Ganz im Gegenteil ist die Tanzpraxis auf vielen Ebenen immer noch darwinistisch, gerade auch im Bezug auf Erkrankungen und Verletzungen. Das Geld für die Produktion muss sichergestellt werden. Aufgrund von Verletzungen entstandene Zusatzkosten müssen die Tänzer*innen meist selbst tragen. Beispiele und Möglichkeiten gäbe es in dieser Richtung viele.
So lange Zugänge jedoch nicht auch dort gewährleistet werden, wo es darum geht, Privilegien in Frage zu stellen, bleiben Diversitätsbestrebungen in den Künsten eine Sache der happy few – die durch verfrühte Erfolgsmeldungen Ungerechtigkeiten mitunter sogar überdecken können.
*Wir haben überlegt, unsere eigenen Herkünfte, einschließlich der sozio-ökonomischen, für diesen Text mitzuthematisieren, haben uns aber dagegen entschieden. Auf Anfrage sind wir gern zur Offenlegung bereit. Kontakt: post@elenaphilipp.de oder mail@astridkaminski.com
Eine Kurzfassung des Essays erschien vorab unter dem Titel „Szene öffne Dich“ in tanzraumberlin – das Magazin zur tanzcard (Ausgabe März/April 2019).