Meg Stuart eröffnet mit „UNTIL OUR HEARTS STOP” auf der Bühne des HAU 2 zum wiederholten Mal einen scheinbar schamfreien Raum, in dem es keine Tabus des körperlichen und zwischenmenschlichen Miteinanders zu geben scheint.
Sie beklettern und besteigen sich, rutschen tollpatschig aneinander ab und versuchen es unermüdlich immer wieder von vorn. Es ist mehr professionalisierter Dilettantismus statt virtuoses Partnering. Hier sollen keine ausbalancierten Körperpyramiden entstehen, vielmehr wird das ganze Spektrum an Nähe mit viel Forschergeist physisch erprobt. Das Jazz-Trio agiert an den Instrumenten und auch performend – sie werden ebenso beklettert, geohrfeigt, malträtiert und pseudo-zärtlich getätschelt. Die Musik trägt die Atmosphäre, in denen jegliche Nuancen von körperlicher und emotionaler Nähe ausgelotet werden.
Schlichte, unifarbene langärmlige Sweater oder Hemden, Skinny Jeans und Turnschuhe – irgendwie typische Berlin-Uniform bei maximaler Neutralität. Es dauert nicht lange, dann reißen sich die Performer*innen die ersten Stücke energisch von den Körpern. Minutenlang verschlingen sich die nun mehr nackten Körper ineinander, springen sich an, wollen sich aneinander kleben und klammern, und scheitern dabei immer wieder auf unelegante Weise. Das Duett von Maria F. Scaroni und Claire Vivianne Sobottke erforscht jegliche Winkel und Kontaktflächen zwischen den zwei nackten Körpern. Brüste klatschen aneinander, es wird an Brustwarzen gezwickt und gezwackt, sämtliche Körperstellen kriegen eine gelangt und mit den Zehenspitzen an den jeweils nicht eigenen Schamlippen gekitzelt. Diese unsensiblen, lüsternen Körpererforschungen changieren zwischen schelmischer Zärtlichkeit und schonungsloser Brutalität. Ein theaterhaftes als ob bleibt aus, die Körper klatschen lautstark gegeneinander und tragen Striemen und blaue Flecke davon. Die in New Orleans geborene und in Berlin und Brüssel lebende Choreographin und Tänzerin Meg Stuart hat „UNTIL OUR HEARTS STOP” schon 2015 in Kooperation mit den Münchener Kammerspielen produziert. Mit ihrem Ensemble Damaged Goods sucht sie nach immer neuen Formen von Gemeinschaft und ungewöhnlichen Wegen mit dem Anspruch sich stets neu zu definieren.
Der violette Teppichboden, mit der lackglänzenden schwarzen Tanzbodenraute darauf, das schwarze Ledersofa und ein violetter Samtvorhangschal auf der rechten Bühnenseite erlauben die Assoziation eines Swinger Clubs. Extravagante Trash-Outfits wie das Langhaarkleid zu goldenen Highheels von Claire Vivianne Sobottke oder die Glitzeranzüge mit tiefem V-Ausschnitt bis zum Schambein von Neil Callaghan und Jared Gradinger geben dieser Atmosphäre weiteres Futter. Tabus und Regeln scheinen in „UNTIL OUR HEARTS STOP” meilenweit entfernt – sodass das Setting einer billigen Porno-Szenerie entkommt. Das aufeinander Schmeißen, aneinander Hochklettern, sich gegenseitig Tragen und dabei immer wieder Abrutschen ist letztendlich weniger sexualisiert als vielmehr ein Spiel um des Spielens willen. Vielleicht auch ein Spiegel menschlicher Beziehungen – nicht nur romantisch sexueller Art, sondern Nähe auch im Sinne von gleichschwingenden Vibes.
Diese sollen auch auf das Publikum übertragen werden. Die Performance umgeht das gequält, peinlich berührte Moment partizipativer Aufforderungen gekonnt. Die Zuschauer sind schnell dabei sich auf angebotene Obststücke, Whiskey, Tarot-Lesungen, Geburtstagskuchen bis hin zum Wohnungsschlüssel für das Hamburger Apartment von Kristof Van Boven einzulassen. Kristof Van Boven – als Einziger von den Münchener Kammerspielen – spricht einen pointierten Monolog, in dem er dem Pianisten Stefan Rusconi zahlreiche Fragen stellt; etwa ob er mal nachsehen könne, ob seine Mutter im Publikum sei. Der Monolog schweift ab ins Lamentieren, spricht abwechselnd den Pianisten, das Publikum und schließlich sich selbst an, und baut zu dieser distanziertesten Figur – hier gerade im an Frank Sinatra erinnernden Frack – am meisten Nähe auf. Formen von Magie und Hipster-Spiritualität verschwinden unter bodenlangen kimonoartigen Mänteln und in den Rauchschwaden des abgefackelten Salbeis (oder war es Palo Santo?) und lassen auch die dadurch provozierten Hustenanfälle im Publikum langsam verhallen. Selten hat Nacktheit, Rausch und Exzess soviel Sinn gemacht wie bei Meg Stuarts „UNTIL OUR HEARTS STOP”.