Die Veranstaltungsreihe Was der Körper erinnert. Zur Aktualität des Tanzerbes (24. August – 21. September 2019), die von der Akademie der Künste und anderen Partnern veranstaltet wird, bietet vier Wochen Performances und Lectures, samt einer Ausstellung, einem Campus und einer Publikation, die allesamt der Geschichte und dem Erbe des zeitgenössischen Tanzes heute gewidmet sind.
Dies ist ein Ort, an dem Sie Lücken Ihres westlichen Tanzgeschichtswissens füllen können, falls dies etwas ist, wonach Ihnen der Sinn steht. Wenn Sie das breitgefächerte Programm überfliegen, werden Sie Mary Wigman-Neuschaffungen, Valeska Gert-Manifestationen und Isadora Duncan-Lektionen finden. Gebührende Beachtung werden die nordamerikanischen Größen finden: Merce Cunningham, Steve Paxton und Yvonne Rainer, um nur einige wenige zu nennen. Manch großer Name aus dem europäischen zeitgenössischen Tanz erscheint auch, wie Anne Teresa De Keersmaeker, Boris Charmatz, Xavier Le Roy und viele andere, alle eingebettet in Diskurs und Diskussion darüber, wie diese Tanzerbe-Frage anzugehen sei.
So beeindruckend diese Besetzung ist, stelle ich fest, wie sehr ich mich (mal wieder) angesichts der eurozentrischen Natur des Ganzen drehe und winde. Sie sehen, wenn man wie ich in Durban, Südafrika, geboren wurde, als Weiße in einer einstigen Kolonie aufwuchs, wirft dies immer einen komplexen Schatten auf die Weise, wie ich der Arbeit begegne, die ich in Europa sehe. Mein achtzehnjähriges Selbst (das ein Fach namens ‚Westliche Tanzgeschichte‘ an der Universität studierte, das mit den Ursprüngen des Balletts begann und mit der Entwicklung des Modern Dance in Nordamerika endete) wäre außer sich gewesen, die Möglichkeit gehabt zu haben, zu sehen, wie die Geschichtsbücher „zum Leben erwachen“. Aber mehr als zehn Jahre später stelle ich fest, dass ich Geschichtsbüchern im Allgemeinen ein wenig vorsichtiger begegne.
Ich bin zurückhaltend, eine Veranstaltung als eurozentrisch zu kritisieren, wenn wir uns letzten Endes doch in Europa befinden. Die Kurator*innen und Organisator*innen wissen sehr „wohl[…], dass wir eine Perspektive aus Deutschland und Europa einnehmen“, (wie dem Programm zu entnehmen ist). An einer anderen Stelle finde ich die „eher eurozentrische“ Kuratierung direkt beim Namen genannt, was sich wie ein Haftungsausschluss für etwas anfühlt, das offensichtlich ist. Ein vorlauter Teil meiner selbst meint, diese Veranstaltungsreihe sollte den Namen ‚Westeuropäisches und nordamerikanisches Tanzerbe heute‘ tragen – weniger publikumswirksam, dafür aber genauer. Eine gewisse Universalitätsprämisse löst Besorgnis in mir aus und ich bin perplex angesichts der vier Tage „nichteuropäischer Tanztraditionen“, die vom 12. bis zum 15. September stattfinden, wie uns die Akademie der Künste informiert, als würde diese kuratorische Geste zu einer globalen Berücksichtigung des Tanzerbes führen.
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich zur Eröffnungsnacht eintreffe, um „Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich“ von Anne Teresa De Keersmaeker zu sehen. Das Betrachten des Stücks fühlt sich an wie die größere Version der DVD, die wir im Geschichtsseminar schauten. Ein Gefühl von Nostalgie und Empfinden von Schönheit steigen in diesem Moment in mir auf, was ich aber fast unmittelbar nachdem ich den Ort verlassen habe wieder vergesse. Während der folgenden Woche sehe ich vier Stücke von Lucinda Childs aus den 1960ern und obwohl ich spüre, dass ich Zeugin ‚wichtiger Tanzgeschichte‘ bin, lassen mich diese Tänze kalt. Die stille, geometrische Choreografie fühlt sich an wie ein Relikt aus einer anderen Zeit und ich stelle in Frage, ob Re-Konstruktion wirklich der beste Weg ist, um vergangenen Aufführungen Raum zu geben, wenn Körper (Performender wie Zuschauender) stetig im Wandel begriffen sind.
Später, als ich in der Ausstellung Das Jahrhundert des Tanzes stehe und sie auf mich wirken lasse, fange ich an über das Verhältnis zwischen dem Archiv und dem Kanon nachzudenken, sowie über die machtvolle Position der Individuen, die diesem Kanon Gestalt geben. Plötzlich höre ich ein bekanntes Geräusch, das mich erschrecken lässt; es sind eine Art roboterhafte Sirenen, die von Xavier Le Roy kommen und auf einen der Bildschirme projiziert werden. Er performt „Self Unfinished“ und es fühlt sich unglaublich befremdlich für mich an, denn während des letzten Monats habe ich versucht, genau dieses Geräusch zu perfektionieren, als ich als Performerin in Xavier Le Roys „Retrospective“ im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart arbeitete, die auch Teil der Veranstaltungsreihe Was der Körper erinnert ist. Mir dämmert – dadurch dass ich seine Arbeit performe, trete ich in genau diesen Kanon ein, den ich mit solch kritischem Auge betrachte. Ich bin verunsichert, was ich mit diesem Gedanken anfangen soll, und gehe nach unten, um der Lecture von Ong Keng Sen zuzuhören, die den Titel trägt: „Intercultural“ Archives: The Dance Archive Box Project.
Sofort fühle ich mich von Ong Keng Sens Herangehensweise energetisiert und bin froh, dass er einer der sechs Kuratoren des Gesamtprojekts ist. Ong Keng Sen eröffnet seinen Vortrag, indem er seinen Skeptizismus dem Wort „interkulturell“ gegenüber erklärt, und, wie dieses Wort mit dem Finger auf die Art und Weise zeigt, wie unser Bewusstsein kolonialisiert wird, und auf die dringliche Aufgabe der Dekolonisation – die unmöglich wie notwendig ist. Er fährt fort, ein Projekt namens „The Dance Archive Box“ zu erläutern, das er als Teil des Singapore International Festival of the Arts kuratiert hat, ein Prozess, in dem sieben zeitgenössische japanische Tanzschaffende je eine Box kreierten, die eine einzige Performance (nach ihrem Ermessen) archiviert. Diese sieben Boxen wurden dann an sieben andere Künstler*innen in verschiedenen Ländern geschickt, zur Interpretation und Verwendung für die Kreation einer anderen Performance. Dieses Projekt ruft mir in Erinnerung, dass es fantasievollere und elastischere Herangehensweisen an Archive gibt, als die, die in der Mehrheit in den Vordergrund dieser Veranstaltungsreihe gestellt wurden.
Ong Keng Sen besteht auf dem Wert eines Archivs, entsprechend der Art und Weise wie es genutzt wird, und bringt das Archiv als einen Ort des neuen Werkes ein. Er lädt uns ein, jedwede kreative Arbeit als einen Prolog zu einer anderen Arbeit in Betracht zu ziehen, und spricht über Archive als etwas, das der Community gehört und nicht einem Individuum. Hierüber reflektierend denke ich plötzlich an meine Erfahrung während Xavier Le Roys „Retrospective“, welche normative Ideen von der Unumstößlichkeit etablierter Künstlerarchive ins Wanken bringt. In diesem Stück lernen wir Auszüge aus Xaviers früheren Arbeiten und performen sie entsprechend einem System, das auf das Eintreten neuer Besucher*innen in den Raum reagiert. Aber diese Auszüge und Referenzen haben auch die Funktion von Übergängen zu unserer eigenen ‚Retrospektive‘, denn jede*r Performer*in entwickelt und erzählt ihre*seine eigene Geschichte, wobei im Mitteilen den Besucher*innen eine Art biografisches Geschenk gemacht wird. Sie merken, dass es in dem Stück tatsächlich nicht um die Wiederholung und Reproduktion von Dingen geht, die Xavier Le Roys Körper in der Vergangenheit getan hat, sondern darum, wie Performance eine sinnhafte Art von Austausch oder Verbindung generieren kann.
In beiden Fällen, „The Dance Archive Box Project“ wie „Retrospective“, wird ein Archiv zum Werkzeug, das gebraucht wird, um eine Situation zu schaffen, die der Gegenwart angehört, anstelle den Versuch zu machen, einen Moment zu konservieren und zu konstruieren, der der Vergangenheit angehört. Ungeachtet des Rätsels, was Tanzerbe ausmacht, merke ich, dass, statt sich damit zu befassen, was der Körper erinnert, es viel lebendiger sein könnte, sich damit zu beschäftigen, wie der Körper erinnert und wie der Körper die Vergangenheit nutzen kann, um eine völlig differente Zukunft zu generieren. Dies ist eine Frage, die während des Diskursprogramms erforscht wird, welches dieses Wochenende fortgesetzt wird und ich möchte Sie ermutigen, einen ernsthaften Blick darauf zu werfen und an dem Gespräch darüber teilzuhaben, wie man sich kreativ einem kollektiven Tanzerbe nähern kann.
Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski