„Water Will (in Melody)“, Ligia Lewis © Dorothea Tuch

Wasser findet ihren Weg!

Mit „Water Will (in Melody)“ zeigt Ligia Lewis am HAU2 ein Vorweihnachtsmärchen der anderen Art. Ihr düster-groteskes Bewegungstheater führt das Publikum an einen dystopischen Zukunftsort, an welchem Frauen als freakige Artefakte einer längstvergangenen Zeit hausen. Das wollen wir nicht wirklich.

Dunkelheit. Der Sound entwirft einen nächtlichen Wald. Ein Käuzchen ruft, Frösche quaken an einem imaginären Gewässer. Im Taschenlampen-Scheinwerferlicht läuft unruhig und mit entstellten Bewegungen eine weibliche Kreatur die Bühne auf und ab. Eine Hybridin aus Mensch, Tier und Avatar, deren von Plastik knirschender Körper eine unerlöste Seele gefangen hält. Ob diese futuristische Wiedergängerin trieb- oder ferngesteuert ist, bleibt in der Schwebe. Aber ganz offensichtlich hat sie Probleme mit der Informationsübertragung: Im Gruselschocker-Ton erzählt sie Grimms Märchen vom eigenwilligen (weiblichen) Kind. Die narrative Logik wird plötzlich mit impulshafter Naivität von Sätzen wie „Can you see the waterfall?“ unterbrochen. Damit schreibt Lewis dem Weiblichen, augenzwinkernd, etwas zu, das auch der klassischen Tanzgeschichte nicht fremd ist: Das vermeintlich schwache Geschlecht neigt dazu, den geraden Pfad der christlichen Tugend zu verlassen. Dem muss selbstverständlich moralisch ermahnend Einhalt geboten werden.

In einschlägigen romantischen Ballettklassikern werden aufsässige Mädchenfiguren zum Zwecke gesellschaftlichen Ausschlusses gerne mal in leichtfüßige wald- und wasseraffine Elementargeistinnen verwandelt. Lewis hingegen setzt nicht auf ätherische Verklärung und inszeniert sich und ihre drei Darstellerinnen direkt als von der Norm Abweichende, als Frauen in Lack und Leder (Susanne Sachsse und Ligia Lewis), im Anstaltsnachthemd mit Hut (Titilayo Adebayo) oder im futuristischen Girly-Outfit (Dani Brown). Die sympathisch überspitzt gezeichneten Freakinnen mit Sexappeal wirken, ähnlich den unter dem Deckmäntelchen des Ätherischen männermordenden Wiedergängerinnen im Ballett, auch nicht ganz wie von dieser Welt. Ihre Beziehung zu allem Sinnlichen ist seltsam entkoppelt und unterkühlt, obwohl sie sich mit starken Gesten artikulieren. In einem kellergleichen und als Vorhölle deutbaren Bühnensetting mit Aufstiegschancen (ein Knotentau weist den Weg nach oben) winden sie sich als lebendiges Relief. Augen und Münder fratzenhaft aufgesperrt – die Transformation heidnischer Elfen in christliche Hexen ist wissenschaftlich erforscht –  ohnmächtig gegenüber einer nicht sichtbaren, höheren Instanz.

Im weiteren Verlauf des Stücks werden die Tragödien des historisch zugeschriebenen Weiblichen mit erwartbarer, aber ausbleibender Melodramatik ausgehebelt und dekonstruiert. Susanne Schwarz rezitiert als Diven-Klonin besagtes Grimm-Märchen bedeutungsvoll, aber emotional unbeteiligt auf Deutsch, um danach schuldbewusst die Hand zu heben und sich mechanisch am Geschlecht zu kratzen. Wenige Szenen später geht sie aufs Publikum zu, um gleich darauf einen Rückzieher zu machen: „I will stand up against your will“ … „I´m sorry, I made a mistake“. Auch die restlichen Darstellerinnen schwanken zwischen selbstbewusster Haltung und Selbst-Auflösung: „I´m leaving the frame“ und „I´m losing form“. Die Frauenbilder die Lewis hier aufgreift, sind — und das machen die ironische Distanz und die Verfremdungsmechanismen deutlich — immer auch Stereotype und eingeübte Rollen.

In einem zweiteiligen Intermezzo, welches mehrere Genres des Melodramatischen bedient, überträgt sich die Betriebsstörung der Darstellerinnen auf den Theaterapparat, und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion werden auf einer höheren Ebene erschüttert. In einer Art Kurzschluss tanzen drei der Darstellerinnen plötzlich ohne Übertragungsschwierigkeiten flüssig und kraftvoll zum Song „Fade away“ und bedienen ein (vermeintlich) makelloses Frausein, indem sie, wie gewohnt (?), einwandfrei und formvollendet funktionieren. Auf Bühnenseite folgt ein Stromausfall. Das Publikum darf im pathetisch kreisenden und hellen Flutscheinwerferlicht bedeutungsschwangerer Opernmusik lauschen. Eine Film-Soundtrack-Szene, über die sich mit Wellenrauschen und entsprechender Musik akustisch ein Unglück andeutet, folgt. Im Halbdunkel ist zu erkennen, dass eine der Darstellerinnen, Ligia Lewis, am Bühnenrand gestrandet ist. Sie erzählt von „Creatures of the lake“ und von Dunkelheit. Es folgt die Geburt des Geistes (der ursprünglich für das Prinzip des Männlichen steht) aus dem Wasser (mythologisch weiblich assoziiert mit Chaos und Formlosigkeit).

Die Mär vom unergründlich Weiblichen findet eine entsprechende terra ingognita im Bühnenraum, der mit künstlichem Sprühregen zunehmend durchfeuchtet wird. Der Keller aus dem ersten Teil des Stücks wird zum Gewölbe, zur Grotte: „Pandora. Pandora´s Aquarium …“. Die Darstellerinnen sprechen im Flüsterton zu sich selbst, irren über die Bühne. Sie scheinen wortwörtlich aufzuweichen, ihre Bewegungen werden weniger mechanisch, menschlicher, sie lachen, wirken beinahe albern, legen sich übereinander. In einer weiteren Szene blicken sie nach oben über das Publikum hinaus. Beinahe scheint es, als würde hier ein Hoffnungsschimmer sichtbar. Als die Bühne sich mit herabhängenden Stoffbahnen und tropfenden Sound in eine imaginäre Tropfsteinhöhle verwandelt, steht Titilayo Adebayo mit dem Rücken zum Publikum. Sie trägt für diesen Abend eine schwarze Melone und eine Art Anstaltsnachthemd. Darin macht sie in einem natürlichen Wassertropfenrhythmus kleine Sprünge: „I can hardly see the road. So I ask a question … Lord … I were complaining … I were complaining … I were complaining …“, Stromausfall?! Keine göttlich Response erschallt aus dem Off. Willen allerdings ist an Umsetzungskompetenz gebunden und bedeutet die Übertragung von Vorstellungen in die Realität. Ligia Lewis unterbricht das Hüpfen und geht mit klaren und gezielten Schritten von der Bühne ab. She´s leaving the (patriarchal) frame. Irre ist das keinesfalls, aber ziemlich selbstbewusst.