„Die sechs Brandenburgischen Konzerte“, Anne Teresa De Keersmaeker, Rosas © Anne Van Aerschot

Warum ich in Stücken von Anne Teresa de Keersmaeker immer weinen muss…

…ist reine Mathematik. Johann Sebastian Bachs polyphone Experimente der „sechs Brandenburgischen Konzerte“ werden von de Keersmaeker in Bewegung versetzt.

Volksbühne Berlin: zugegeben, es ist schon ein großes Fest der Hochkultur, was sich da auf jener zuletzt umkämpften Bühne zuträgt – 100 Minuten Bach, gespielt von einem natürlich ausgezeichneten Orchester (BʼRock Orchestra unter der Leitung von Amandine Beyer), choreografiert von einer der renommiertesten zeitgenössischen Choreografinnen, Anne Teresa de Keersmaeker, die es wie kaum eine andere versteht, musikalische Prinzipien in tänzerische zu übertragen. Musik und Tanz, pure Form: harmonisch-triumphal. Die Beschwingtheit der Bachʼschen Klänge, die Virtuosität der Compagnie Rosas und all die Hingabe an die Kunst, wirken an diesem Ort seltsam deplatziert. Es liegt ganz sicher am Echo der Debatten um Dercon und der Volksbühne als Sehnsuchtsort des Arbeiter*innentheaters, dass frau angesichts dieser Meister*innen-Kunst zunächst abwechselnd über die Formalismus-Keule und dann noch über Relevanzprobleme stolpert. Es ist die Skepsis gegenüber jener Kenner*innenschaft, die an großen Namen und Formen klebt, der scheinbaren Erhabenheit der ‚Schönen Künste‘ – dem Bürgertum, der ganzen Hochkultur an sich…

Bis ich doch heulen muss. De Keersmaeker hat es wieder einmal geschafft. Die Wucht der Präzision, der Komplexität und Klarheit, die Unerschütterlichkeit der tänzerischen Bewegung, die Schönheit der Form trifft mich wie immer direkt ins Mark und rührt mich zu Tränen.

Nicht, dass ich mich nicht gesträubt hätte: Denn auch, wenn ich nicht viel von Musik verstehe, wird schnell klar, dass alles darauf angelegt ist, sich davon tragen zu lassen, in Heiterkeit und Frohsinn zu schwelgen oder zu höheren Sphären zu gelangen. Jugendliche Aufbruchsstimmung ist in diesen Noten verpackt – ein Aufgebot an Harmonie, ein Glaube an das Gute, der in diesen Zeiten fraglich geworden scheint. De Keersmaeker sieht in den „sechs Brandenburgischen Konzerten“ eine „jugendliche Musik, deren Energie sich auf und davon macht“ (Notiz aus dem Programmheft). Stellt sich die Frage: Wohin (noch)? Die „sechs Konzerte“ wurden von der Choreografie in geometrische Muster, in Weggabelungen zerlegt: klare Linien (die Reihen), Wellenbewegung, Zick-Zack (Fallen, Aufstehen, Umdrehen) und Kreis (Rennen, Schritte setzen). Es liegt ebenso viel Aufbruch wie Kontrolle darin: diagonal geschwungene Arme und Beine, lässig-sinnliche Bodenrollen, eingedrehte Füße, und immer wieder: die typischen, ausladenden Sprünge nach allen Seiten, voller Leichtigkeit, Kraft, Ausdauer. Gerade zu Beginn, wenn sich die 16 Tänzer*innen der verschiedenen Rosas- Generationen in Reihen vor- und rückwärts über die Bühne bewegen, geradeaus mit Blick zum Publikum sich rhythmisch zur Musik aufreihen, liegt die Assoziation zum Marschieren, zur (höfischen) Repräsentation, zu Harmonie und Einheit à la Louis XIV nicht fern – von Bach erklingen hier Hörner wie zur königlichen Jagdgarde.

Gerade als ich mir wünsche, dass jemand aus der Reihe tanzt, erscheint ein Hund auf der Bühne: angeleint, geführt von einem Tänzer, stolpert er freudig umher und lässt sich nicht nehmen, mit lautem Bellen ins Konzert mit einzustimmen. Eine weitere Tänzerin setzt wie selbstverständlich zum „Zahnseide-Tanz“ an (weltweiter YouTube-Kult und der Hit auf jedem Schulhof) – die klare Form der Choreografie wird von den einzelnen Tänzer*innen durch ihre jeweils eigene Präsenz und Interpretation immer wieder ein Stück auseinander geschraubt. Das ist die ganze Jugendlichkeit bei Bach und bei De Keersmaeker:
Aus den höfischen Reihen wird ein Rausch und ein Taumel der Form bis zu deren eigenem Ausbruch. Die Linienführung der Choreografie greift die der Musik auf oder vielmehr: die Töne nehmen erst durch die Bewegung wirklich Gestalt an. De Keersmaeker visualisiert die mathematischen Geheimnisse, von denen die Musikwissenschaftler*innen schwärmen – sie flößt ihnen Leben, Verletzlichkeit und Trotz ein. Jedes Teilkonzert endet mit einem halb erleichtert, halb verwunderten Applaus des Publikums, ein Aufatmen angesichts dieser bewegten Höchstleistungen. Bin ich jetzt auch davon getragen? Ich erwische mich selbst, den Atem anzuhalten.