Sasha Waltz zeigt mit “Kreatur” erstmals seit über zehn Jahren wieder eine Uraufführung im Radialsystem.
Es ist ein beeindruckendes Bild, das sich aus dem Zwielicht heraus langsam vervollständigt: Begleitet von einem dunklen Grollen erscheinen nach und nach weiß schimmernde Gewebe-Kugeln auf der leeren Bühne. Lediglich ein weißer Lichtspalt ermöglicht das Erahnen nackter menschlicher Körper unter diesem nicht fassbaren, membranartigen Material. Immer mehr dieser Wesen schweben auf die Bühne, bis schließlich alle 14 der Tänzer*innen solitär, in Paaren oder als Gruppen ineinander versinken, sich festklammern oder voneinander abwenden. Der Blick fällt auf ein Paar, das die Hülle bereits abgestreift hat: athletisch und virtuos verschlingen sich ihre Körper, so langsam allerdings, dass sie geradezu skulptural wirken.
“Kreatur” heißt das neue Tanzstück von Sasha Waltz, das nun im Radialsystem V uraufgeführt wurde. Tatsächlich wäre “kreatürlich” eine Beschreibung für diejenigen, die immer noch von dem Gewebe umsponnen sind, die Beziehungsstrukturen, die hier erzählt werden, scheinen aber menschliche zu sein: Es geht um die Vereinzelung, die Sehnsucht nach partnerschaftlicher Verbundenheit, aber auch um Flucht und Vertreibung. Man glaubt, trotz des sehr reduzierten Settings, die Schreckensmeldungen der letzten Monate wiederzuerkennen, etwa als alle Tänzer*innen eine am rechten Rand befindliche Empore heraufdrängen. Kaum zu glauben, dass sie alle dort oben Platz finden und so stürzen einige ab, während andere sich über die Wand der Empore kletternd retten können.
Die lang erwartete neue Choreografie von Sasha Waltz, für die sie mit der Künstlerin und Designerin Iris van Herpen und dem Soundwalk Collective transdisziplinär zusammengearbeitet hat, müsste durch klare Bezugnahme zu aktuellen Geschehnissen, aber auch durch die unkonventionelle visuelle Ebene des Stücks, eigentlich besonders spannend sein. Allerdings macht sich mit zunehmender Dauer der Choreografie eine gewisse Ratlosigkeit breit, die sich vor allem aus der Gleichzeitigkeit vieler verschiedener Szenen auf der Bühne speist. Der Titel des Stücks lässt vermuten, dass es um die philosophische Frage nach dem großen Ganzen geht: Wie positioniert sich der Mensch im Wirrwarr der Informationen über Flucht und Vertreibung, Macht und Ohnmacht? Doch die Bewegungsideen, um eben jene Fragen zu ergründen, fesseln nicht. Vielleicht liegt das sogar an den überästhetischen Kostümen, die als eigenes Kunstwerk eher für sich stehen. Es ist, als würden sie die Sicht auf das Eigentliche verstellen, die Narration mehr behindern als mit ihr in Einklang zu stehen.
Im letzten Drittel gibt es dann einen aufregenden Moment, als ein schwarzes Wesen, dessen Körper ganz und gar von langen, anthrazit-schimmernden Stacheln bedeckt ist, die bei jeder Bewegung bedrohlich aneinanderschlagen, die Gruppe attackiert. Sie alle stehen aufgereiht – im Spot und wehrlos vor Angst. Das Wesen nähert sich, schleicht um die Körper herum; und während die eine sich verschreckt zur Seite dreht und auszuweichen versucht, begibt sich die nächste mutig in die Konfrontation und lässt die Kreatur ihr Haar zerfurchen. Der unterschiedliche Umgang mit Angst wird hier eindrucksvoll in Szene gesetzt. Unnötig erscheinen deshalb die Szenen, in denen die Erzählung allzu plakativ erscheint: Als ein Tänzer seine Partnerin mit einem Akkuschrauber an den Gelenken “zurecht biegt” beispielsweise oder als sich zu Serge Gainsbourgs “Je t’aime” in akthaften Gesten verrenkt wird.
Was will Sasha Waltz eigentlich? – diese Frage bleibt nicht aus. Schönheit, Liebe, Elend, all dies gehört zweifellos zum Leben. Aber wenn der Mensch hier nicht Mensch, sondern “Kreatur” genannt wird, dann ist das vielleicht doch weniger kreatürlich als im Sinn eines Design-Objekts gemeint. Seht: Wie er sich biegt und verausgabt für nichts als irreschönen Schein.