Auf dem Kreuzberger Blücherplatz beschuldigen Die Elektroschuhe in “I am Reality” das Publikum seiner eigenen Neugierde.
„Du willst doch nur alles wissen. Du bist pervers. Du bist ein analoges perverses digitales Schwein. Du bist eine digitale Missgeburt, verstehst du!” Ini Dill sitzt nassgeschwitzt im Inneren einer Matratze und schimpft lautstark los. Zuvor mimte sie noch mit Daniel Drabek das frisch vermählte Ehepaar in Hochzeitskleid und schwarzem Anzug, bis sie sich wegen eines Handys stritten. Sie trug in der analogen Welt eine Schaumstoffmatratze auf ihrem Rücken, er stürzte sich lieber ins Digitale, anstatt ihr zu helfen, ihr gemeinsames Leben einzurichten. Ihre Schimpftirade dem “perversen digitalen Schwein” gegenüber geht weiter: “Du willst alles über mich wissen. Dabei gibt es doch gar nichts zu wissen.”
Unter Zuhilfenahme der Stückbeschreibung ist “das perverse digitale Schwein” jemand, der durch digitalen Passwortklau Einblick in das Privatleben eines fremden Paares bekommt, doch dieser Ansatz wird nicht während der Performance deutlich und trägt auch nicht zur Entwicklung des Stückes bei. Dass die Performance, die Teil des Performing Arts Festivals ist, auf dem Blücherplatz zwischen Parkplatz, Einrichtungshaus und Telefonzelle stattfindet, ist die rettende Idee, warum Dills und Drabeks Darbietung über Konflikte, die durch moderne Kommunikationsmittel entstehen, funktioniert. Treffend formuliert es Dill in ihrer Performance: “Du bist keine Analogie. Du bist analog. Funktionierst analog. Küss mich analog!” Dill und Drabek treiben all die negativen Eigenschaften einer Welt, die das digitale über das analoge Leben stellt, sich ständig selbst beobachtet und dunkle Geheimnisse veröffentlicht, auf die Spitze. Die Zuschauer werden zu Voyeuren einer schrillen Performance mit brutalen Momenten, die das eigene Lachen gefrieren lassen. Die Stimmungswechsel passieren rasant.
Der Ansatz, digital und analog als roten Faden der Performance zu verwenden, funktioniert nur bedingt. Hin und wieder arbeiten “Die Elektroschuhe” mit Audiocollagen, in denen Sprache durch Rauscheffekte verfremdet wird. Collagen, die die Sicht eines digitalen Stalkers wiedergeben könnten: “Du bist ich und ich bin sie.” Es sind Gedanken eines Menschen, der ein fremdes Privatleben zu seinem macht. Doch so richtig fügen sich die Einspieler nicht in das Stück. Sie irritieren vielmehr.
In einem Moment lassen sich Dill und Drabek übermütig im Wechsel auf die noch originalverpackte Schaumstoffmatratze fallen, im nächsten stopft er sie gewaltsam zwischen Plastikhülle und Matratze, sie fällt mit der Matratze auf den Boden. Die Matratze liegt auf ihr, eine Passantin möchte zur Hilfe eilen, doch dann versteht die vorübergehende Frau den Performance-Charakter, der ihr die Sicherheit gibt, dass alles in Ordnung sei. Es ist das einzige Mal, dass jemand eingreift.
Das Publikum nimmt die mehr oder weniger chiffrierten Szenen einer Ehe hin, lässt sich durch so manchen gespielten Streit unterhalten und beobachtet das Paar sogar beim Sex. Beide stehen ohne Oberkleidung in der ausgehöhlten Matratze, nachdem sie zuvor all ihre T-Shirts und Hosen von sich geworfen hatten, nackte Arme und nackte Füße strecken sich in den Himmel. Es ist wahrlich kein privater Moment, denn gerade in dieser Szene zücken Menschen ihre Handys, um die Halbnackten zu filmen. Auch wenn letztlich das Publikum durch seine Neugierde die Performance rettet, ist der theoretische Überbau zu groß für die beiden Performer*innen. Die Matratze, die Dill und Drabek mal als Couch, Bett oder Trennwand nutzen, wie auch der vielfache Kostümwechsel hätte genügt, um dem Publikum in der halbstündigen Darbietung den Spiegel vorzuhalten.