In der HALLE TANZBÜHNE BERLIN brillieren die cie. toula limnaios und die cia. gira dança mit einer Gemeinschaftsproduktion.
Wenn Toula Limnaios’ Ensemble tanzt, dann sind ihre Bewegungen fließend, sie verschmelzen geradezu mit Ralf R. Ollertz’ Musik, die er eigens für sie während der Entstehung des Stückes kreiert. Ein Prinzip, dem Limnaios und Ollertz auch bei ihrer Zusammenarbeit mit der brasilianischen Gruppe cia. gira dança treu bleiben. Die zwei Ensembles trafen sich erstmals beim Contemporary Dance International Meeting 2014 zu einem Workshop in Brasilien und entwickelten später zusammen das Stück „die einen, die anderen“ mit 14 Tänzer*innen. Erst probten sie gemeinsam in Brasilien, dann einzeln an ihren jeweiligen Wohnorten, später flog die Gruppe aus Natal nach Berlin, um das Projekt zu vollenden. Entstanden sind zwei Stücke, die auch für sich stehen können. Die Szenen wurden motivisch festgelegt, jede der beiden Gruppen interpretiert sie anders. Limnaois’ Gruppe zeigt den schmalen Grad zwischen Begehren und Gewalt, die cia. gira dança konzentriert sich mit vollem Körpereinsatz auf Bilder zwischen Sehnsucht nach Liebe und harter Realität.
In „die einen, die anderen“ schwanken die Machtverhältnisse der Performer*innen unentwegt. Fünf von sieben brasilianischen Tänzer*innen sind körperlich anders, definieren aber ihre Besonderheiten zu Möglichkeiten um. Betritt die nicht-sehende Joselma Soares die Bühne, dann präsentiert sie ihren Blindenstock mit Teleskopauszug wie ein Königszepter. In einer anderen Szene tritt sie im Duo mit Marconi Araújo auf, der im Rollstuhl sitzt. Er beugt seinen Körper so nach vorne, dass sie ballerinengleich mit gestrecktem Körper in weißem Tüllkleid auf ihm liegt. Oder ein anderer, so poetischer wie kraftvoller Moment: Die kleinwüchsige Jania Santos stützt sich mit jeweils einem Arm auf zwei in die Luft stehende Beine und stößt sich an ihnen so ab, dass sie sich mit fliegenden Schritten nach vorne bewegt. Das ist ein Bild, das gerade durch die unterschiedlichen Körpergrößen so gut wirkt.
Die beiden Tanzensembles sieht man nie gleichzeitig auf der Bühne, abwesend sind „die anderen“ trotzdem nicht. Giacomo Corvaia, der bis 2015 in Limnaios Kompagnie mittanzte, holt sie durch eindringliche Videos mit auf die Bühne. Geschickt verändert Corvaia Wirklichkeiten und setzt sie komplementär und kontrapunktisch zum Bühnengeschehen ein: In einem Bild stehen zwei Performer*innen wie geisterhafte Erscheinungen in nebeneinanderstehenden Ruinentoren, die einst Hauseingänge waren, während die Tänzer*innen des anderen Ensembles auf der Bühne niedersinken. Corvaia konzentriert sich vor allem auf verlassene Orte und greift somit das Motiv der An- und Abwesenheit wieder auf.
Die von Michel Foucaults philosophischen Radiovorträgen „Der utopische Körper“ und „Die Heterotopien“ inspirierte Performance hinterfragt damit das Verhältnis von Körpern an realen und utopischen Orten. Ein utopischer Ort suspendiert, neutralisiert oder kehrt die Ordnung des realen Raumes um und schafft damit einen illusionären Raum mit vollkommen anderer Ordnung. Die beiden Ensembles ergänzen und widersprechen einander, hinterfragen Realität und Utopie sowie konventionelle, normierende Körperbilder. Limnaios zwängt ihre Tänzer*innen nicht in feste Bewegungsstrukturen. Sie entwirft Portraits von Menschen zwischen Licht und Schatten, zwischen Stärke, Härte und Zärtlichkeit und erschafft einen faszinierenden Abend jenseits von Zeit, Raum und Körper.