„Still Life“, Naoko Tanaka © Henryk Weiffenbach

Vergessene Orte


Naoko Tanaka lockt mit „STILL LIVES“ in ein poetisches Universum der Selbstvergessenheit

Wohl kaum etwas sagt mehr über ein Kunstwerk aus als der Nachhall, den es hinterlässt. Naoko Tanakas szenische Installation „STILL LIVES“ ist eine von diesen Kunst-Begegnungen der besonderen Art. Subtil spinnt sie einen in einen Kokon aus Bildern, Gefühlen und Gedanken ein. Ihre volle Verzauberungskraft entfaltet die düster-surrealistisch anmutende Aufführung so erst im Nachhinein.

Hinter einem enormen Luftkissen aus Polyäthylen kniet im asketischen Licht einer weißen Neonröhre eine Frau mit langem Haar. Ihre Körperhaltung, aber auch das proportionale Verhältnis zum Folienriesen, verleihen ihr etwas mädchenhaft Kindliches. Die schemenhafte Gestalt wirft Steine auf das wie ein Felsen oder ein Berg anmutende plastische Gebilde, das sich nunmehr, Ringe bildend, wie Wasser verhält. Die vermeintlichen Steine wiederum entpuppen sich als Flummis. Wie Glaskugeln oder Perlen fischt Naoko diese aus dem Folienluftkissen, das durch ihr Körpergewicht und ihr Gehen so verformt wird, dass es aussieht, als würde sie durch einen Ozean mit mannshohen Wellen spazieren.

Es sind gestaltwandlerisch ineinanderfließende und seltsam verwaiste Bewegungsszenerien kurz vor dem Standbildmodus die Tanaka hier choreografiert. Um das kindliche Spiel in der Natur, auf das Tanaka dabei verweist, als etwas Vertrautes zu empfinden, muss man auf den ersten Blick keine große Erinnerungsarchäologie betreiben. Doch wie klar hat man solche Kindheitserinnerungen wirklich vor Augen? Sind sie nicht — wie auch Tanakas märchenhafte Szenerien selbst — traumähnlich entrückte und verschwommene Bilder und Gefühle, die aus der Tiefe des Unterbewusstseins in einem emporsteigen — als Abbilder von etwas Bekanntem und gleichzeitig lang Vergessenem, also dann wieder auch Fremden? Den Schatten als Umrisse innerer, oft nebulöser Erlebnis-Welten hat sich Naoko Tanaka bereits in ihrer gleichnamigen Trilogie verschrieben. In „Die Scheinwerferin“ (2011) beschäftigte sie sich mit den Themen Schein und äußere Erscheinung und beleuchtete verdrängte Erinnerungen an die persönliche Geschichte einer Essstörung mit einem Puppendouble ihrer selbst. Es folgten zwei weitere Solos namens „Absolute Helligkeit“ (2012) und „Unverinnerlicht“ (2015).

Quasi als Naturgesetz lässt die in Tokio und Düsseldorf ausgebildete Malerin und Bildende Künstlerin das Verhältnis von Licht und Schatten in ihre eigenwillige Bühnenkunst einfließen. In „STILL LIVES“ entwirft sie einen aufsteigenden Lichtstrudel und entblößt die architektonischen Besonderheiten des Festsaals der Sophiensaele dabei als etwas, das zwar stets sichtbar ist, aber während einer Aufführung nur selten in den Mittelpunkt der Publikums-Aufmerksamkeit gerückt wird. Besagter Lichtstrudel folgt einer Zeitkomposition, die ungefähr der Geschwindigkeit entspricht, in der Sonnen und Monde Planeten umkreisen. In ´Echtzeit´ bedarf es gute achtzig Minuten, bis Naoko Tanaka den Festsaal im übertragenen Sinne nach oben hin öffnet. Das gelingt ihr, indem sie den abgedunkelten Saal Ebene um Ebene per kreisendem Lichtschein (von dem das rechts und links auf der Bühne sitzende Publikum regelmäßig angestrahlt wird) und einem großen Scheinwerfer auf der Empore beleuchtet. Ist das eine Metapher für ein entwurzeltes Stückchen Stadtlandschaft, dass in die Unendlichkeit des Universums entschwebt? Vier Zeichnungen der Künstlerin, die im Foyer der Sophiensaele ausgestellt sind, lassen das vermuten. Gleichzeitig markiert diese spiralförmige Lichtöffnung des dunklen Raums aber auch den im Abendzettel erwähnten Zustand kindlicher Selbstvergessenheit. Genauer gesagt, das Auftauchen daraus.

Tanaka ist, glücklicherweise, weit davon entfernt, Zustände der kindlichen Selbstvergessenheit bloß zu imitieren. Und trotzdem erfasst sie deren Essenz spürbar. Denn auch sie und ihre Mitperformerin Yoshie Shibahara wirken in ihrer stummen Anwesenheit als wäre ihnen die äußere Welt abhandengekommen. Dunkel gekleidet, sind sie in der spärlich beleuchteten Bühne kaum sichtbar. Auch ihre monoton gleichbleibenden und langsam ausgeführten Bewegungen (— hauptsächlich Gehen, auch sich Hinknien und Kriechen —) lassen sie hinter einem Sammelsurium an vergleichsweise hellen Möbeln und Gegenständen (Zollstock, Buch, Bleistifte etc.) zurücktreten, die per Seilzug und Aktenwagen auf die Bühne gelangt sind.

Zum Ende der Vorstellung sind die Möbel so präpariert, dass sie in Schräglage auf eine schwarz spiegelnde ovale Bodenfläche drapiert werden können. Schwimmen sie nun wie die Überreste einer von einer Flutkatastrophe heimgesuchten Zivilisation in die Weltmeere hinaus, als Erinnerungsspuren vergessener und längst verlassener Orte? Eins jedenfalls steht fest, weder im Raum noch in der Zeit scheinen sie fest verankert zu sein.