Das Tanz-Ensemble Grupo Oito zeigt im Ballhaus Naunynstraße eine scharfe und ergreifende Analyse vorherrschender kolonialer Strukturen und schafft so tänzerische Begegnungsräume.
Es ist eine Kreisbewegung. History repeats itself. In einer Welt von weißer Vorherrschaft und weißer Imagination, von „Black Skin und White Mask“ (Frantz Fanon) und allgegenwärtigen, offenen und verschleierten Rassismen werden Auseinandersetzungen lauter: Wo verlaufen die Trennlinien zwischen den Körpern? Wie gehen wir mit struktureller Gewalt, mit individuellen Geschichten, mit Komplizenschaft, dem kolonialen Erbe und seiner Gegenwart um? Wenn ich „wir“ sage, kann dieses „Wir“ ein Ort sein, an dem wir uns jenseits von Zugehörigkeiten begegnen? Bevor die weißen Masken abgelegt werden können, müssen andere Perspektiven, andere Körper und Stimmen sichtbar ins Zentrum rücken.
Die Tanzperformance: „Unrestricted Contact“ im Ballhaus Naunynstrasse versetzt meine Gedanken buchstäblich ins Kreisen, während es uns Zuschauer*innen in eben dieser Formation anordnet. Entlang des inner circles bewegen sich die Tänzer*innen des heterogenen Ensembles. In Zeitlupe schreiten sie diesen Kreis ab, setzen einen Fuß vor den anderen, während sie nach und nach ihre Kleidung von den Körpern streifen. Die Intimität nackter Körper, die sich entlang unseres Sitzkreises bewegen, wird den Raum während des gesamten Stückes erfüllen. Jede einzelne Tänzerin und jeder Tänzer wird sich selbst und sein Verhältnis zur Gruppe befragen. Wie können wir der Wiederholung entfliehen? Gegen den Uhrzeigersinn, rückwärts, beginnen einige gegen den Strom anzulaufen. Ein Luftzug geht durch den Raum. Schwindel. Schauer. Rotierende Gedanken. Bis die Kreisformation sich auflöst, die Tanzfläche sich ausweitet und andere Richtungen möglich werden.
Unterschiedliche Biografien, Lebensrealitäten, Vorannahmen und Erfahrungen verlaufen hier quer zueinander, zwischen einem Ensemble aus People of Colour und weißen Tänzer*innen ebenso wie durch das Publikum. Wie und ob die Trennlinien (überhaupt) durchquert werden können, sind Fragen, die physisch und verbal explizit an diesem Abend zur Verhandlung stehen.
Choreograf Ricardo de Paula schafft Begegnungen über gemeinsame Körperpraktiken, Dialoge und starke, mitreißende Bilder in einem physisch und emotional geteilten Raum. In Duetten, Trios und imposanten Gruppenchoreografien entwickelt das Ensemble eine gemeinsame, treibende Kraft, die sich auf die Zuschauenden überträgt. „Say his name, say her name“, rufen sie, befragen einander zu individuellen Erfahrungen mit Rassismus und Gewalt oder der (Un)Möglichkeit, die (eigenen) normalisierenden Blickregime abzuwenden oder umzulenken…Vor allem aber formuliert „Unrestricted Contact“ Möglichkeitsräume für Vielstimmigkeit und die Aufforderung, mit eigenen Worten für sich und füreinander einzustehen. „Die colonial situation makes me loose my voice“ / „I cannot be pessimist, because I am still alive“ sind zwei Wahrheiten unter vielen, die an diesem Abend zur Sprache kommen.
Oder: „I feel like this“ – erhobene Arme, von Zitterpartien ergriffene Körper, die nach hinten und vorn überkippen, deren Hände wie Fächer schützend über schmerzende Gesichter streifen. Aber auch jene, die kraftvoll in die Luft springen, sich verausgaben und aneinander festhalten, die Fäuste nach oben strecken und mit offenen Blicken in die Reihen schauen – eine Gemeinschaft, die Solidarität, Stärke und Mut ausstrahlt.
Das Besondere dieser Arbeit ist, dass sie es schafft, jede*n einzelne*n Tänzer*in in ihrer*seiner individuellen Bewegungssprache in Erscheinung treten zu lassen und gleichzeitig ein gemeinsames Vokabular zu entwickeln. „Unrestricted Contact“ erlaubt sich Begegnungen und Kollisionen zwischen zeitgenössischen Formensprachen und anderen, traditionellen Ästhetiken. Eine schamanistische Gestalt streift immer wieder die Runde der Zuschauer*innen zwischen präzise choreografierten Formationen und erinnert daran, dass Tanz (auch in seiner zeitgenössischen Formensprache) noch Potential zu Heilung und Magie in sich trägt. …Und: „This is not the end, but the beginning“.