„JUCK“ ©Märta Thisner

Unterdrückung mit einem Liebesstoß austreiben.

„JUCK“ – etwas zwischen einem feierlichen Technoritual, einer Traumabefreiungstherapie und einer vollständigen Austreibung des Patriarchismus – ist mehr als eine kraftvolle und fein abgestimmte Performance. Die Arbeit, die auf den Tanztagen Berlin 2020 gezeigt wurde, ist eine Überlebensstrategie angesichts von Unterdrückungssystemen zur Gewährleistung von Gemeinschaft und Freude.

Ich lud eine Freundin ein, mit mir „JUCK“ anzusehen, aber nachdem sie den Kurztext des Programms gelesen hatte, schrieb sie: „Ich weiß nicht. Klingt etwas ‚silly‘ (zu Deutsch: blöd).“ Das Wort ‚silly‘ hat eine interessante Etymologie. Ursprünglich bedeutete es ‚happy‘ (glücklich), ‚fortuitous‘ (zufällig), ‚blessed‘ (gesegnet), oder‚blissful‘ (glückselig). Erst im 14. Jahrhundert änderte sich die Bedeutung zu ‚foolish‘ (dumm), ‚pitiable‘ (erbärmlich) oder ‚feeble-minded‘ (schwachsinnig)[1]. Wenn wir ‚silly‘ in der ursprünglichen Bedeutung verwenden, dann ist „JUCK“ in der Tat sehr ‚silly‘, ein Segen und Glückseligkeit verleihendes Geschenk, das leider weniger als eine Stunde andauert.

Ich muss gestehen, dass ich selbst vorab aufgrund des Onlinetextes meine Zweifel an der Performance gehabt hatte, wobei es dabei nicht um potentielle Blödheit ging. Stattdessen war ich heimlich besorgt über den Anspruch des Stücks, eine ‚Manifestation weiblicher Sexualität, die sich vom männlichen Blick befreit ohne sich zu entschuldigen‘ zu sein. Sich vom männlichen Blick zu befreien ist kein Leichtes. Es ist ein verfluchtes Gebiet. Das Patriarchat ist komplex und hinterhältig. Mir ist als hätte ich so viele Performer*innen gesehen, die versuchten, weibliche Sexualität (was immer das heißen mag) mit der Intention der Emanzipation auf die Bühne zu bringen, wurde aber Zeugin, wie sie auf heimtückische Weise zurück in eine unveränderte Machtdynamik fallen und der männliche Blick nach wie vor die komplette Kontrolle bewahrt.

Wie auch immer, der Blick ist in „JUCK“ ein integraler Bestandteil der Arbeit, denn das Ensemble (Feyona Naluzzi Thylander, Sepideh Khodarahmi, Tarika Wahlberg, Cajsa Godée, Madeleine Ngoma, Emelie Enlund und Shirley Harthey Ubilla) verwendet die Strategie des Zurückblickens. Mithilfe dieser Strategie öffnen sie einen Raum, in dem Machtgefüge instabil sind und sich verändern. Mehr noch stürzen sie durch eine Kultivierung des Kollektivs nicht bloß archetypische Bilder ‚des Femininen‘, sondern auch queere Konzepte weiblicher Sexualität, und zwar in einer Art und Weise, die die Arbeit explosiv feministisch macht und über die Grenze der Genderbinarität hinausträgt.

Die Eröffnungsszene fühlt sich an, als würde man in eine vorpubertäre Pyjama-Party hereinplatzen. Ein Popsong dröhnt und alle Performerinnen sind bereits auf der Bühne, fläzen sich auf ihr, reden miteinander, tauschen geheime Witze aus und starren provokant auf das Publikum, mal flirtender, mal aggressiver Miene. Ein sanftes Warm-up, doch wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es auch eine Kampfvorbereitung. Als eine der Performerinnen die Show mit einer spektakulären Lippensynchronisation zu Janet Jacksons „Together Again“ eröffnet, fällt mir plötzlich ein, dass das Lippensynchronisieren von Popsongs für meine älteren Schwestern und mich ein regelmäßiger Zeitvertreib gewesen ist. Wann genau verschwand unsere spielerische Praxis? Und warum fühlt sich diese freudige Lippensynchronisation von „Together Again“ an wie eine potentielle Waffe, ein Mittel des Widerstands? Für mich ist es ein Song, der jenen huldigt, die nicht länger mit uns sind und der ebenfalls auf eine Weise zu einem kollektiven Bewusstsein spricht. Diese hymnenartige Eröffnung fühlt sich sowohl wie ein Gebet als auch ein Segen an, für jene , die vor uns gegangen sind, sowie für das, was folgt.

Der Song hört abrupt auf und die Energie beruhigt sich. In der eintretenden Stille beginnen die Tänzerinnen, Posen aus der heteronormativen Kultur und aus Fashionmagazinen direkt zu übernehmen. Es ist, als würde ich eine kleine Auffrischung all der Stellungen, Haltungen und Daseinsformen erhalten, deren Erfüllung die kapitalistische Kultur von uns erwartet. Die Ausführung der Haltungen wird schneller, wird zu einer Art Tanz, in dem bestimmte provokative Gesten sich in etwas anderes verwandeln, etwas Gewaltvolleres und Mächtigeres. Begraben in diesen aufblitzenden Bildern, die sich oftmals auf normative Weiblichkeitsdarstellungen beziehen, kann ich auch flüchtig Gesten erkennen, die Gewalt gegen ‚Femme‘-heit suggerieren: das eklige Grinsen, das wollüstige Zungenwackeln, der Typ, der sich in den Schritt greift und dich mit seinem Ding bedrängt. Tatsächlich wird das Motiv des „Sexualorgans“ immer augenfälliger und ich muss unweigerlich an die Phrase „diese Pussy greift zurück“ denken. Durch ihren Tanz schaffen es die Performerinnen, die Gewalt, die oftmals gegen das Geschlecht sich als Femme indentifizierender Personen agiert wird, in eine alchemistische Mischung aus Wut, Liebe und kreativer Kraft zu transformieren; die vielschichtigen Darstellungen maskuliner Aggression und koketter Schulmädchen morphen in eine Manifestation irgendeiner allmächtigen Göttin.

Der Wirbelsturm der Aktivität wird regelmäßig durch die Machtpose und ein den anderen Blick niederzwingendes Starren unterbrochen. Die Performerinnen formieren sich orchestriert ganz nah an der ersten Zuschauerreihe – wie auf dem Cover eines Destiny’s Child-Albums – und nehmen sich einen langen Moment Zeit, uns, das Publikum, zu betrachten. Aber es gibt nicht das eine Schauen. Die präzise Natur ihres Blicks variiert je nachdem wer schaut und auf wen geschaut wird. Nach mindestens 20 Minuten der Entfesselung dieses vielköpfigen Biestes gegenderter Repräsentation in einer patriarchalen Struktur – und nachdem sie die Zeit für Pausen genommen haben, auf uns zu schauen, auf sie zu schauen, auf es, alles zusammen, zu schauen – kommen wir schließlich zu dem heiligen juck, womit die Körper der Performerinnen ihrer Wahrheit Luft machen.

Die Bühne verdunkelt sich und die solidarisierten Frauen (engl. Original: womxn) versammeln sich akkurat angeordnet, wunderschön ausgeleuchtet wie die Wiederkunft Christi. Dann beginnen sie, die Füße weit auseinander aufgestellt, die Arme an den Seiten und leicht nach hinten gezogen, ihre Hände zu festen Fäusten geballt und ihre Kinne gehoben, ganz leicht, fast nicht zu sehen, ihre Becken in perfektem Unisono zurück und vor zu bewegen. Dieses Stoßen wird stärker, die Bewegung wird größer und machtvoller, kraftvoll stoßen sie auf jedem Wumm des anwachsenden Technobeats. Ich bekomme Gänsehaut. Es ist, als ob diese hexenartigen ‚womxn‘ die vielen Arten beschwören, in denen Femininität (und Maskulinität?) produziert und konsumiert wird, und diese dann mit jedem einzelnen Beckenhieb systematisch von ihren Körpern losschütteln.

Dieser Exorzismus des Patriarchats fühlt sich an wie eine sehr einfache und machbare Praxis, eine tägliche Reinigung, die direkt aus der Leistengegend kommt. Mehr als nur einmal nehme ich tatsächlich, während ich diesen Text schreibe und mit meinen üblichen Unsicherheiten ringe, eine Pause vom Bildschirm, stehe auf, stoße mein Spiegelbild im Fenster und schüttele was auch immer für eine Restangst ab, die ich in meiner eigenen Stimme habe. Für mich ist es auf jeden Fall eine Offenbarung.

Aber es sind nicht die Stöße und nicht nur die Blicke. Es gibt noch etwas anderes, das hier im Spiel ist. Die Nähe der Gruppe, die Arten, auf die sie sich kennen, sich gegenseitig halten, sich Raum geben – alles macht dieses Ritual sehr real. Das ist es, was diese Magie magisch macht. Bis zum Ende des Stückes geht das Stoßen weiter, aber es manifestiert sich unterschiedlich durch jedes Individuum. Es gibt Momente kollektiven Stoßens im Unisono, aber da ist auch individuelles Stoßen, Solo-Stoßen, langsames Stoßen, ungesehenes Stoßen, Stoßen mit der Stimme, den Lungen, dem Solarplexus, dem Gesicht, der Zunge, den Fäusten. Sie alle sind eine aktive und wiederholte Antwort zur Verarbeitung der verschiedenen Arten, in denen jede Performerin Unterdrückung erfahren hat.

„JUCK“ ist eine Performance – und eine Praxis – die uns nicht nur Opposition und Widerstand darbringt, sondern auch eine exquisite und lustvolle Hoffnung. Ich bin, um es recht offen zu sagen, voller Dankbarkeit, mein Jahr damit begonnen zu haben, sechs gesegnete Individuen auf der Bühne zu sehen, die uns kundtun, dass mit einem einfachen Beckenstoß und einem Fokus auf gemeinschaftliche Unterstützung die Macht zurückgewonnen werden kann.


Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski


[1] Alle Klammerungen dieses Absatzes: Anmerkungen der Übersetzerin