„CASCADE“, Meg Stuart / Damaged Goods ©Martin Argyroglo

Träum‘ mit Mir

TANZPLATTFORM 2022 >>> In der Tanzperformance „CASCADE“ von Meg Stuart / Damaged Goods, welche vom 24. bis 26. Februar im HAU Hebbel am Ufer zu sehen ist, wird ein kollektiver Traum von Zeit Wirklichkeit – oder war er schon immer real? „CASCADE“ ist eine der ausgewählten Performances der Tanzplattform Deutschland 2022 und wird am 19. und 20. März in der Volksbühne erneut zu sehen sein.

Surreal, die Schlangen von Menschen, die ihre Tickets abholen, ihren 2G+ Status überprüfen lassen, schnell den letzten Schluck ihres Biers kurz vor dem Beginn der Vorstellung trinken und das Leergut bei den Fahrradständern abstellen. Surreal ihre Anzahl, Energie und Dichte. Eine Szene von vor Jahren oder eine, die erst in Jahren sein wird, aber irgendwie bin ich heute mittendrin.

Die siebenköpfige Gruppe von Performer*innen „ist eine Bande von Träumer*innen“, sagte Meg Stuart in einem Interview über „CASCADE“ im September 2020, nach der abgesagten Premiere, die nicht stattfinden konnte, und vor der verschobenen Premiere, die stattfinden sollte. Sich an die Aufführung zu erinnern, ihre Bilder wieder heraufzubeschwören, um über sie zu schreiben, fühlt sich für mich wie ein soziales Träumen an. Im April 2020, etwas mehr als einen Monat nach Beginn des Lockdowns in New York City, nahm ich an meiner ersten Social Dreaming-Matrix teil. ‚Social Dreaming‘ ist der Name, den Gordon Lawrence in den 1980er Jahren einer von ihm entdeckten Art von Sozialtechnologie gab. Während einer Matrix spricht jede*r Teilnehmende der Reihe nach Bilder aus ihren*seinen Träumen und Assoziationen zu diesen Bildern laut aus. Eine Matrix beginnt immer mit der Frage: „Was ist der erste Traum?“ Von da an bildet sich langsam eine Konstellation aus den Fantasien der Gruppe, die das parallele Unterbewusstsein sichtbar macht.

Die Welt, die ich sehe, sieht aus wie Stein und bewegt sich wie Wasser. Gesten kräuseln sich in ihr mit einer inneren Logik, die der Richtung von Ursache und Wirkung sowohl zu gehorchen als auch zu trotzen scheint. Die Luft um mich herum hat eine Masse, die ich spüren kann und Bewegungen, die weit von mir entfernt stattfinden, scheinen meinen Körper zu bewegen.

Die Tänzer*innen erreichen gerade einen der vielen Höhepunkte der Körperlichkeit, die sie im Laufe des Abends gemeinsam produzieren werden und ein assoziatives Bild taucht in meinem Kopf auf: In einem Schaufenster eines riesigen Spielzeugladens bewegen sich aufziehbare und batteriebetriebene Spielzeuge. Wackelköpfe wackeln. Kleine Perpetuum Mobile pendeln. Symmetrien entstehen, nur um einen Moment später wieder zusammenzubrechen. Zeitsignaturen stimmen nur für einen Atemzug überein, oder für einige wenige. Manche Bewegungen kommen zum Stillstand, während andere unaufhörlich weiterlaufen. Man könnte keine Gleichung für die Bewegung des gesamten Systems aufstellen.

Eine tiefe und beruhigende Stimme heißt mich willkommen. Ich bin mir nicht sicher, wo ich gewesen bin. Es könnte eine Werbepause oder eine Quarantäne gewesen sein, eine lange Reise oder ein Rip Van Winkle-artiger Schlaf. Oder ein kurzzeitiger Aussetzer der Aufmerksamkeit, ein Tagtraum. Was auch immer es ist, die Stimme sagt, es sei zu lange her.

Es ist der Darsteller Davis Freeman, der nach einem Drittel des (bis dahin wortlosen) Abends die Worte: „Willkommen zurück. Es ist lange her.“, spricht. Ich werde mir der vollen Sitze um mich herum bewusst und der Relativität des Begriffs „voll“. Es sind viel mehr Leute hier als bei der letzten ausverkauften Performance im HAU2, die ich erst letzten Monat gesehen hatte. Keine abgeklebten Sitze oder gestaffelten Tickets. Was ist das für eine Welle der Nostalgie, die ich spüre? Ist es eine Vorliebe für die ausverkauften Häuser der Vergangenheit, oder ist es eine Sehnsucht nach der Zukunft, eine Sehnsucht, die von dem Wissen geprägt ist, dass man oft nicht bekommt, was man sich wünscht?

Die Darsteller*innen stehen in einer Reihe, die wie ein Vorhang aussieht, aber die Vorstellung ist noch nicht zu Ende, niemand applaudiert. Sie scheinen immer angewiderter, enttäuschter oder trauriger. Sie gehen ab. Sie räumen auf. Sie beginnen von neuem. Sie machen weiter.

Eine soziale Traum-Matrix behandelt Träume als Manifestationen kollektiven Unbewusstseins, die parallel zu den im Wachleben gelebten sozialen Strukturen existieren. „CASCADE“ ist völlig von der Pandemie durchdrungen, aber nicht in der gleichen Weise, wie das „Pandemie-Theater“ nach Werkzeugen und Formaten sucht, um virtuelle, hybride und distanzierte Ereignisse zu schaffen. Stuart und ihre Kompanie Damaged Goods begannen die Arbeit an dem Stück Anfang 2020 als kollektive Recherche über Zeit und die Bewegung des Fallens. Stuart sagte, dass sie mit „Rissen“ arbeiteten, als die Lockdowns begannen. Man könnte dies als einen seltsamen Zufall betrachten. Oder man könnte es als natürliches Produkt eines kollektiven Unterbewusstseins betrachten, das bereits damit beschäftigt war, von dem zu träumen, was kommen würde.

Ein Team von Taucher*innen, die nach Atlantis suchen, kreuzt den Weg von Astronauten auf einer interplanetaren Mission.

Einige Dinge, die ich über Träume gelernt habe, und an die mich „CASCADE“ erinnert hat:

Die Vergangenheit ist die Zukunft und die Zukunft ist die Vergangenheit.

Die Von-uns-Gegangenen sind bereit, mit der Gegenwart zu sprechen; unsere Vorfahren begleiten uns.

Wir sind immer schon im Begriff dessen, was als nächstes kommt. Wir spüren es bereits.

Meine Träume gehören nicht nur mir.

Wir träumen uns unsere Wirklichkeit ins Leben.

Immer wieder stolpert ein Mensch und stürzt. Immer wieder schaue ich zu. Jedes Mal geschieht es ein wenig anders, aber irgendwie auch genau gleich. Jedes Mal ist es völlig vorhersehbar und völlig unvermeidlich.

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente


“CASCADE” von Meg Stuart / Damaged Goods wird erneut am 19. & 20. März an der Volksbühne Berlin, im Rahmen der Tanzplattform Deutschland 2022 zu sehen sein.