„SYM-PHONIE MMXX“, Sasha Waltz & Guests ©Bernd Uhlig

Nach dem Krieg gibt es kein Zurück

Man sagt, dass jede Tragödie aus fünf Akten bestehen sollte: 1) Exposition, 2) Komplikation, 3) Höhepunkt (Peripetie), 4) Retardierendes Moment und 5) Auflösung. Aber wir sind hier nicht bei Ibsen oder Shakespeare. Dies sind Sasha Waltz & Guests und es handelt sich um eine Sinfonie in vier Sätzen. Das heißt: Es gibt keine Auflösung in der „SYM-PHONIE MMXX“, die am 13. März 2022 uraufgeführt wurde und am 18. und 19. März an der Staatsoper Unter den Linden Berlin zu sehen ist.

Akt I:

Exposition

Das Licht geht an und ich werde sofort an die umstrittenen Parthenon-Skulpturen im Britischen Museum erinnert, die ich als Studentin, die in den Wohnheimen am Russell Square lebte (der vornehmsten Postleitzahl, die ich vielleicht je haben werde), oft besucht hatte. Als erstes fällt mir der Ostfries ein, der das panathenäische Fest zu Ehren von Athenas Geburt darstellt: Olympische Götter in friedlicher Ruhe, die sich aufeinander stützen oder in perfektem Gleichgewicht an den Gliedern des jeweils anderen ziehen. Ein Bild der Gelassenheit. Doch schon bald wird es vom Furor seines Nachbarn, des Nordfrieses, abgelöst, der den blutigen Kampf zwischen Kentauren und Lapithen zeigt: Reiter und ihre Pferde stürmen vorwärts, die Beine bäumen sich auf, die Fäuste fuchteln, die Nüstern blähen sich. Dies ist der Kampf, der seither den Kampf der Menschheit zwischen bestialischen Neigungen und zivilisiertem Verhalten symbolisiert – ein Kampf, der, wie Sasha Waltz in „SYM-PHONIE MMXX“ zeigt, weder verloren noch gewonnen wurde, sondern vielmehr andauert. Zugegeben, es ist ein Punkt, der umso ergreifender – ja sogar schmerzhaft – ist, wenn man erfährt, dass das Stück vor zwei Jahren in der ersten Phase der Pandemie geschrieben wurde, aber aufgrund mehrerer Verschiebungen und, wohl dem Zufall geschuldet, erst im März 2022, als Russland in die Ukraine einmarschierte, uraufgeführt wurde. Und obwohl die Choreografin im Interview mit der B.Z. Berlin darauf besteht, dass sie seit der ersten Konzeption nichts an dem Stück geändert hat, hat es doch „einen unglaublich aktuellen Bezug, der (sie) fast erschreckt“. Der Konflikt, in all seinen Erscheinungsformen, ist nie weit weg von unseren Bildschirmen, weshalb es wohl auch keine wirkliche Lösung gibt, weder auf noch hinter der Bühne. Armeen von Tänzer*innen rücken vor, um sich dann wieder zurückzuziehen und erneut vorzurücken. Sie führen Krieg gegeneinander, nur um sich dann wieder zurückzuziehen und sich erneut zu prügeln. Sie prallen aufeinander, krachen zusammen und führen einen Kreuzzug, nur um sich wieder zu beruhigen und sich erneut zu prügeln. Peng, Peng, Peng, Blut wird vergossen, aufgewischt und wieder vergossen. Alles, so scheint es, um einer Mauer willen. Einer Mauer. Einer Mauer.


Akt II:

Komplikation

Im hinteren Teil der Bühne ist eine Bronzemauer errichtet worden. Sie erinnert mich an die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, wo ich täglich zwischen dem Schreiben spazieren gehe. Und obwohl ich es immer als eine demütigende Erfahrung empfinde, mich in ihre imposante Gegenwart zu begeben, besteht der gravierende Unterschied darin, dass die Tänzer*innen von Waltz nicht durch die Trennwand hindurchgehen können, wie ich es fast jeden Tag tue, wenn ich mich durch die Gitterstäbe schlängele, die einst den ursprünglichen „Antifaschistischen Schutzwall“, wie die DDR-Behörden ihn nannten, aufrechterhielten. (Was mich sogleich an Putins Behauptung von der angeblichen „Entnazifizierung“ der Ukraine erinnert.) Vielmehr werden ihre Tänzer*innen von der Mauer eingegrenzt, wenn nicht gar aufgehalten. Eingepfercht wie unwissende Kegel auf einer Kegelbahn. Dieses Bild wird noch überzeugender, als die Bronzewand plötzlich auf der linken Bühnenseite auftaucht und sich langsam aber sicher ihren Weg über die Bühne bahnt, wobei sie eine*n Tänzer*in nach dem*der anderen in die Kulissen stößt, bis … Strike! Die Bühne ist leer. Der Orchestergraben schweigt. Stille. Aber nicht für lange. Schließlich haben die Menschen die Angewohnheit, wenn schon nicht durch, so doch zumindest um oder über Mauern zu kommen. So geht die Handlung weiter, wenn auch diesmal mit der bronzenen Barriere, die sich den Tänzer*innen von der rechten Seite der Bühne nähert. Wie es weitergeht, ist nicht schwer vorherzusagen. Mauern neigen dazu, mit der Zeit zu fallen, nicht wahr?


Akt III:

Höhepunkt (Peripetie)

21 von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete Tänzer*innen schreiten wie eine Polizeistreife die Diagonalen auf und ab. Doch schon bald brechen sie aus ihrer strengen Formation aus und drängen sich in wuseligen Gruppen und Clustern. Um gesehen zu werden, klettern sie einander auf die Schultern, schlagen in die Luft oder halten unsichtbare Plakate hoch. Entschlossen, sich Gehör zu verschaffen, stampfen sie unisono mit den Füßen auf oder halten sich die Hände vor den Mund, um stumme Mantras gegen Ungerechtigkeit zu schreien. Sie sind auf einer Demonstration, so viel ist klar. In der Tat führt Waltz ihre Inspiration für das Stück auf die Demokratiebewegung in Hongkong und später auf die Black-Lives-Matter-Bewegung zurück, die die ganze Welt erfasst hat. Oder sind ihre Tänzer*innen vielleicht in einen Aufstand verwickelt? Denn schon bald richten sich ihre Fäuste gegeneinander, ihre Gesichter sind wütend. Irgendjemand ist schuld. Einzelne werden aus der Bande herausgegriffen: angegangen, erpresst und getreten. Dann versucht jemand einzugreifen. Jetzt gehen sie zu weit. Das hat er nicht verdient. Oh doch, das hat er. Auf welcher Seite stehst du? Das ist jetzt ein ‚wir‘ gegen ’sie‘, Kumpel. Zwei Lager bilden sich in jeder Ecke der Bühne – der Raum zwischen ihnen ist angespannt vor Testosteron – bis jemand ausrastet. Eine Waffe wird durch die Luft geschleudert … Ob es sich nun um einen Stein, eine Handgranate oder einen Molotow-Cocktail handelt, es signalisiert mit Sicherheit den totalen Krieg. Die Körper der Tänzer*innen werden zu Waffen, ihre Gliedmaßen werden zu Knüppeln, Schlagstöcken und bōs – sie zielen mit äußerster Präzision auf ihre Gegner. Ihre Bewegungen erinnern unweigerlich an Kampfsportarten und sorgen bisweilen für unangenehme Momente, in denen man die Augen zusammenkneift und sich in seinem Sitz windet, als würde man einem MMA-Kampf zusehen. Die Sache ist die, dass es weder eine*n Schiedsrichter*in noch ein applaudierendes Publikum gibt, um ihre Bewegungen zu messen, sondern nur den bedrohlichen Klang von Georg Friedrich Haas‘ mikrotonaler Partitur, die schrittweise crescendiert und decrescendiert, um dann wieder zu crescendieren, bis – STILLE. Oder, wie der Komponist es in dem oben erwähnten Interview beschreibt, „DARKNESS“.


Akt IV:

Retardierendes Moment

In völliger Stille, vom Orchestergraben bis zu den oberen Rängen, stehen 19 Tänzer*innen in einer Reihe, Schulter an Schulter, am hinteren Ende der Bühne. Während sie ängstlich auf das Publikum zugehen, einen Fuß vor den anderen setzend, bahnen sich zwei weitere Tänzer*innen ihren Weg durch sie hindurch – sie spielen Gott, so scheint es, in einem grausamen Spiel von Großmutters Fußstapfen. Sie legen sie, einen nach dem anderen, auf dem Boden ab. Behutsam. Ehrerbietig. Nein, pietätvoll. Denn der Tod hat etwas Heiliges an sich. Eine Stille, die uns an unsere Sitze fesselt. In der Tat gibt es nur wenige Szenen, die mächtiger sind als diese. Es ist, als wäre ich Zeuge, wie Soldaten ins Niemandsland gehen und wissentlich in den Tod laufen. Und das alles, während in der Ukraine ein echter Krieg tobt. Es ist herzzerreißend. Wenn dann nur noch eine Frau übrig ist, fragen wir uns, wohin Waltz jetzt gehen kann? Ist dies das Finale? Die große Auflösung? Das Ende?


Akt V:

Auflösung?

Schritt für Schritt, Glied für Glied, wird die gesamte Szene zurückgespult. Es ist, als säße ich auf einem Sofa und drückte auf den Rückspulknopf einer Fernbedienung, wenn auch nicht in Zeitlupe, sondern in demselben mühsam langsamen Tempo. Waltz dreht die Zeit vor unseren Augen zurück, aber sicher nur, um uns seufzen zu lassen, wenn es doch nur so einfach wäre, und um uns schließlich zu zeigen, dass ihre Tänzer*innen, sobald sie wieder am Anfang stehen – Schulter an Schulter in einer Reihe -, gleich um die Ecke ein weiterer Konflikt erwartet. Waltz bringt ihre Tänzer*innen nie in einen Zustand der Harmonie, obwohl der griechische Name der Aufführung genau das bedeutet. Vielmehr erscheint in der Schlussszene die große Bronzewand von oben – wie der Planet Mars oder vielleicht der Kriegsgott Mars selbst – und senkt sich langsam über ihren Köpfen, Zentimeter für Zentimeter. Und obwohl alle ihre Tänzer*innen mit knapper Not entkommen, bleibt bei mir nicht gerade ein Gefühl der Erleichterung zurück, sondern eher das ungute Gefühl, dass die eigentliche Botschaft hier lautet, dass es keine Auflösung gibt. Denn nach dem Krieg kann es, offen gesagt, kein Zurück geben.


Epilog

Die Parthenon-Skulpturen befinden sich noch immer im Britischen Museum, obwohl sich die griechische Regierung seit 2003 nicht nur für ihre Rückgabe einsetzt, sondern auch ein eigens für sie errichtetes Museum, das Neue Akropolis-Museum in Athen, eröffnet hat, womit sie die Behauptung des Britischen Museums widerlegt, die griechischen Behörden könnten sich unmöglich um sie kümmern. Eine Behauptung, die, wie ich hinzufügen möchte, angesichts des Zustands der griechischen und assyrischen Galerien des Museums in letzter Zeit, wo undichte Stellen zu Schließungen während eines Großteils des letzten Jahres führten, äußerst ironisch ist. Der springende Punkt ist jedoch, dass der Konflikt auch über 200 Jahre nach der Entführung der Skulpturen noch andauert. Und es ist nicht damit zu rechnen, dass er in absehbarer Zeit beigelegt werden kann. Manche Dinge werden sich einfach genommen.


Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente

“SYM-PHONIE MMXX” von Sasha Waltz & Guests hatte seine Weltpremiere am 13. März und wird am 18. und 19. März 2022 erneut an der Staatsoper Unter Den Linden Berlin zu sehen sein. Konzept und Choreografie: Sasha Waltz, Musik: Georg Friedrich Haas.