(Klammer auf: Was bleibt noch Neues zu Jérôme Bels Erfolgs-Klassiker zu sagen?)
Während draußen eine „artivistische“ Intervention an eintretenden Zuschauer*innen vorüber geht, werden drinnen (romantisch) die Feuerzeuge rausgeholt. Kurz vor Silvester an der Volksbühne
Es ist quasi unmöglich, am vorletzen Tag des Jahres 2017 die Volksbühne zu betreten, ohne sich (irgendwie) zu den bemerkenswert ausdauernden Protesten, Diskursen, Beleidigungen oder Verteidigungen zu positionieren, die in diesem Jahr Wellen geschlagen haben.
Mir persönlich geht es so: neuerdings wollen alle (alle anderen: Freund*innen, Kolleg*innen, Bekannte) mit mir über Tanz sprechen. In den meisten Fällen muss ich ihnen dann erklären, dass Tanz nicht per se neoliberal, opportunistisch, selbstausbeuterisch (naja…) und vor allem unpolitisch (weil: „sprachlos“) ist.
„Sagt mir nichts.“, ist ein Satz, den ich im vergangenen Jahr zu oft gehört habe. Oder auch (aber das kennen wir, die Verfechter*innen des zeitgenössischen Tanzes, ja schon): „Was hab‘ ich (ich, der*die politische Zuschauer*in!) damit zu tun, wenn Menschen auf der Bühne (oder auf dem Tempelhofer Feld) ‚herumturnen‘?“
Es ist ein Leichtes, solche Bemerkungen als unqualifiziert abzutun, gleichzeitig auch nicht sehr viel schwerer, Dercon als Inbegriff der schnöden neuen Welt zu verteufeln, obwohl es Gründe dafür gibt.
Auch, wenn das Fass nur bodenlos sein kann, das hier aufgemacht wird: spannend an all dem finde ich die Zuwendung zu einem vermeintlichen oder tatsächlichen Relevanzproblem. Fast schon ein genialer Coup, die erste Spielzeit mit „The Show Must Go On“ zu besetzen – wenn das kein (ungewollter) Zynismus ist…
(So viele Klammern für einen Text.) ((Es ist Jahresrückblick.)) (((Achtung, es wird politisch.))) ((((Genug der Selbstbezüglichkeit!))))
Das dachten sich vielleicht auch die Menschen, die sich am
vergangenen 30. Dezember 2017 auf den Boden vor dem Eingang der
Volksbühne niedergelegt haben. Ungefähr zehn Körper, auf bunten Folien
oder blankem Stein. Verharren wie leblos am Boden, während die (neuen)
Volksbühnenzuschauer*innen sich auf die Show freuen. Diese
Theater-„Artivist*innen“ sprechen zu uns. Sie halten Zettel in den
Händen, auf denen steht: „Nur über meine Leiche“. Sie rühren sich kaum,
verwehren jedoch ein Lächeln nicht, wenn man sich zu ihnen hinunter
beugt. Fotos darf ich auch machen. Ein Mann (der
Schauspieler-„Artivist“) steigt in betonter Offiziers-Manier über ihre
Körper hinweg ruft immer wieder denselben Slogan aus:“Ich gebe euch
nooooooch FÜNF MINUTEN. Dann seid ihr aaaaaaber WEG!“
Eine Anspielung auf die Besetzung und Räumung der Volksbühne im
Oktober? Liegt etwa ein Hauch (revolutionären?)
(gesellschaftskritischen?), widerständigen Gestus darin, wie die Leute
dort auf dem Boden liegen (es ist auf jeden Fall kalt) ((kein richtiges
Leben im falschen))?
Irgendwie ist die ganze (spontane?) Aktion auch nicht ohne Hohn
gegenüber den vielen ‚echten‘ Berliner Obdachlosen, die wirklich nachts
auf den Straßen liegen.
Vor dem Eingang und auf der Bühne – nur (noch) Zitat?
Seit über einem viertel Jahrhundert tourt „The Show must go on“ auf internationalen Bühnen und löst, so Jérôme Bel (stolz), ab und an noch immer Protest im Publikum aus, das sich in seiner Erwartungshaltung von „hoher Kunst“ enttäuscht sieht. In Berlin (am Rosa-Luxemburg Platz) ist es wohl keine Überraschung, wenn Brüche mit Virtuosität niemanden mehr dazu bringen, einen Theatersaal zu verlassen, geschweige denn zu protestieren. Im Gegenteil: die beiden vergnüglichen Damen zu meiner Seite zum Beispiel – ausgestattet mit Opernglas und vorbildlicher Lektüre des Programmheftes – bringen es auf den Punkt: „Das können wir alles mitsingen.“
Man amüsiert sich über die teils ungelenken Ballerinen-Soli, beklatscht den einsamen DJ im Rampenlicht zu „Private Dancer“ und schunkelt zusammen zu den Beatles. Das ist Theater für die ganze Familie.
Zugegeben: es fällt beinahe schwer, sich nicht zurück zu lehnen, mit zu wippen und sich zu amüsieren. Es macht sicher auch Spaß, das zu performen. Der eine konzeptuell-radikale Moment (neben der ganzen guten Unterhaltung) liegt darin, dass der DJ und die Darsteller*innen wirklich jeden einzelnen Song bis zum Ende laufen lassen und vertanzen, auch wenn der Überraschungsmoment, der Witz, die Verlegenheit schon längst ausgereizt sind. Da braucht es dann doch eine Art ‚commitment‘ vom Publikum, die hier zu Kompliz*innen und Fans des Unspektakulären werden. Der Trick dahinter liegt im Prinzip: „alle-wissen-was-jetzt-kommt“. Wenn Celine Dions Stimme durch die Reihen schallt und sich die Darsteller*innen in zweier-Pärchen hintereinander aufstellen, überlagern sich die Bilder im Kopf mit denen auf der Bühne: ausgebreitete Arme, Hände, die Oberkörper umfassen, Köpfe, die sich an Hälsen anschmiegen, abschweifende Blicke – so versinken sie (samt Titanic) im Orchestergraben. Und es funktioniert noch immer: Gänsehaut. Hollywood. Szenenapplaus für alle.
Was auch dahinter steckt und „The Show must go on“ seit 2000 (noch immer) zu einem gelungenen Stück macht, ist die Sehnsucht des Einzelnen nach seinem*ihrem Moment of Glory. Einmal im Rampenlicht. Jede*r kann ein Star sein. Die Jahrtausendwende, das war auch die Zeit der ersten Casting-Shows, Big Brother und später: Deutschland sucht den Super-Star. Vor diesem Hintergrund war ein Bühnenstück mit professionellen Darsteller*innen und Laien noch ein echter Kommentar in Richtung Gegenwart, während das es heute eher als tanz/theatergeschichtliches Standardwerk angesehen werden kann.
Passend zum Silvester-Vorabend funktioniert „The Show must go on“
nicht zuletzt auch als Selbstvergewisserung eines bestimmten kulturellen
Gedächtnisses – wir teilen die Erinnerungen an Gesten aus
Hollywoodfilmen, an Silvester-oder Weihnachtsfeiern oder Klassenfahrten,
auf denen zu „Macarena“ getanzt wurde – ein gemeinschaftstiftendes
Ritual zwischen selbstironischer Distanz und echtem Spaß. Dabei wird
schon klar, dass diese Hitparade einem ganz bestimmten Publikum auf dem
Leib komponiert wurde. Wir feiern unseren eigenen Kanon. Die anderen
haben sich auf den kalten Stein gelegt, protestieren gegen
Selbstvergessenheit und hören vielleicht auch gerne Beatles.
Und (weil’s so schön ist): „We all live in a yellow submarine.”