„Restraint“, Lina Gomez © Gerhard Ludwig

Kein Jahresauftakt ohne Tanz

Die Berliner Tanztage jähren sich – in der inzwischen 27. Ausgabe – wie gewohnt im Januar in den Sophiensaelen. Im Folgenden ein kleiner Rückblick auf ausgewählte Stücke vom Eröffnungswochenende.

Lina Gómez „Restraint“

Eines dieser Stücke, über das man gar nicht so viel sagen/schreiben kann, ohne unwillkürlich in Begeisterungsströme auszubrechen. Zum Beispiel: muss man gesehen haben. Eines dieser Stücke, die (eigentlich unsägliche) Adjektive auf den Plan rufen wie: atemberaubend, gewaltig, energetisch, kraftvoll. Und noch etwas: Lina Gómez Choreografie „Restraint“ lässt sich getrost als Highlight der ersten Tanztage-Hälfte herausheben. Selten ist eine so schlichte wie kluge, emotionale wie konzentrierte Arbeit zu sehen. Das Set ganz einfach: Eine Tänzerin. Ein Musiker. Ein durchdringender Soundteppich. Diese Choreografie setzt einen einzigen Zustand in Szene: Julek Kreutzer ist außer sich. Sie betritt die Bühne, auf der sich ansonsten nur der Musiker Michelangelo Contini am Schlagzeig befindet und es geht sofort los. Der Tanz breitet sich fast horizontal im gesamten Raum aus – Kreutzers Bewegungen ziehen Kreise, scheinen beständig in einen Kampf / Ausbruch verwickelt zu sein. Eingedrehte Gliedmaßen, bebender Rhythmus lassen sie durch den Raum jagen. Impulse, die sich immer wieder verkehren, bei gleichbleibender Intensität in ihren Körper fahren und sie gebannt, auf halber Spitze, am Boden, fallend – wieder aufstehen lassen, um weiter zu rotieren. Minimale Pausen im Bewegungsablauf als kurze Einschübe von so etwas wie Ewigkeit. Es wird hell, es hört schlagartig auf.

Von Wunderkerzen und Zaubertricks.
Asaf Aharonson: „What’s to come“

Das zweite Stück im Festsaal an diesem Abend besticht durch einen Humor der Zwischenfälle. Asaf Aharonson und seine Company mit Yoav Admoni, Cécile Bally, Marc Gabriel und Louise Trueheart versammeln Showeinlagen von ausgeklügelt-originären Zaubertricks, feiern das Offensichtliche und verziehen dabei keine Miene. In „What’s to come“ wird die Theatermaschine angeworfen und sich mit Requisiten, Posen und Klamauk ausgetobt – eine eklektische Sammlung von Szenen, die vor allem wirklich lustig sind.
Auch noch, wenn Aharonson schluchzend am Tisch in seinem Müsli herumstochert und in aufmüpfiges Jaulen einstimmt. Rote Rosen auf dem Tisch. Seitenblick auf die rot lackierten Nägel. Salto seitwärts, kein Problem. Cecile Bally, geschäftige Handwerkerin, lässt sich davon nicht beeindrucken und schlägt erst mal einen Nagel an die Wand. Ein übergroßer Holzballen rollt über die Horizontale. Und dann: Aharonson unbeweglich in Meerjungfrauen-Pose, auf hoher Flosse stehend, um sich einen (richtigen) Kuss aus dem Publikum abzuholen. Keine schlechte Gelegenheit für mehr Humor im zeitgenössischen Tanz. Und noch mehr: Inlineskates, Seifenblasen, nackte Körper auf allen Vieren, ausstaffiert mit glitzernden Wunderkerzen, die zwischen Hautfalten und provisorisch in Körperöffnungen klemmen. Dieses Stück hinterlässt den Eindruck, dass hier ziemlich viel Spaß im Spiel war. Eine Akkumulation von sympathisch-schrägen Szenen und der Mut, immer noch eins drauf setzen.

Sara Mikolai: „Sakhi”

Sara Mikolai macht uns in ihrer Performance auf eine bisher wenig Beachtung findende Figur in der indischen Kulturgeschichte aufmerksam. „Sakhi“, die ohne Namen bleibt und nur „Sakhi“ heißt, ist eine weibliche (bzw. queere) Gestalt, die in der südindischen Tanzform Bharatanatyam wie in zahlreichen Gemälden und Dichtungen auftaucht, um eine in der Regel weibliche Liebende in Sehnsucht, Trauer oder Liebeskummer um einen Mann zu trösten. Sind die Sakhis also immer nur zur Stelle, wenn der boyfriend gerade nicht erreichbar ist? Gegen diese Lesart stellt sich Mikolai und rückt die Sakhi als Vertraute, Liebende und Geliebte ins Zentrum. Letzteres jedenfalls stellt die Tänzerin jedenfalls implizit in den Raum. Viele kleine und große Licht-Kreise scheinen dort auf, um die stets an/abwesende Sakhi zu vergegenwärtigen. Dabei tanzt Mikolai immer wieder den gleichen Tanz, an den Rändern dieser Kreise entlang und spricht zu (ihrer?) Sakhi, als wüsste diese selbst nicht um das Dilemma ihrer ambivalenten Erscheinung. Diese Tänze sind voll von Zärtlichkeit und Sehnsucht und passen zur ruhigen, kontemplativen Atmosphäre des Raumes, die immer wieder von lecture-artigen Einschüben unterbrochen wird. Ob die Sakhi reale Gestalt annehmen kann und welche Sprengkraft allein die Setzung einer lesbischen Liebesbeziehung im kulturellen Kanon Indiens wohl einnehmen würde, lässt sich auch nach der Performance nur erahnen. Zurück bleibt eine fast schon meditative Stimmung, wie tiefes Blau, die sich über alle Vermutungen zu legen scheint. Eine vertiefende Recherche zur „Sakhi-Bindung“ würde sich wohl lohnen…

„Around the World.” Kooperation mit dem „Young Choreographers Festival des Onassis Cultural Centre, Athen

Im Fokus des Programmpunktes „Around the World”, der dem Berliner Publikum Arbeiten internationaler Künstler*innen zugänglich macht, steht dieses Mal der choreografische Nachwuchs der griechischen Hauptstadt.

Die Soloarbeit „A Kind of Fierce“ der Tänzerin Katerina Andreou zeichnet sich durch präzise, originelle Bewegungsqualität aus, die über die Dauer des Stücks nicht abzureißen droht, sondern an Intensität eher noch gewinnt. Sie zerlegt kanonisierte Posen von Rockstar-Attitüden und Pop-Kultur in kleinste Bewegungs-Partikel, positioniert sich selbst zwischen ironischer Aneignung und ernsthafter Verkörperung von emotionalen Zuständen, die in einem einzigen Taumel zusammen fließen.

Die Gruppenarbeit „10.000 Liters“ von Evangelia Kolyra widmet sich einer existentiellen Praxis: dem Atmen. Drei Performer*innen: Joss Carter, Justyna Janiszewska und die Choreografin selbst haben sich dafür in schwer atmende pastellfarbene Plastik-Kostüme geworfen, die sie – zusammen mit an Rücken befestigten Säulen – wie gestrandete Astronauten aussehen lassen. Flach auf dem Boden liegen sie zunächst zu zweit im Nichts, das sich als Zwischensphäre des Jetzt zu erkennen gibt und tauschen sich über mögliche Fluchtpläne aus: “ I am always late for the future.“ So robben die Space Cowboys dann später gemeinsam durchs All, treffen sich, um einander die Luft abzudrücken (immer eine flache Hand auf den anderen Mund), nach Luft zu schnappen und daraus eine Choreografie des Ver-atmens zu entwickeln. Bevor das zu gewollten Slapstick und Pseudo-Theaterdialogen abrutscht, zeigt sich hier eine recht originäre Bewegungsanordnung.

Zusammengefasst: Es ist erstaunlich, wie divers die versammelten Arbeiten in Ästhetik, künstlerisch/kulturellem Horizont und tänzerischem Vokabular erscheinen. An einem einzigen Tag Tanztage entsteht ein mosaikartiges Sammelbild des „zeitgenössischen Tanz“, das (auch) eigene Sehgewohnheiten herausfordern kann.