Das Format „Time to Meet“ der Tanzfabrik Berlin bietet exklusiven Einblick in künstlerische Arbeitsprozesse. Felix M. Ott nimmt die Besucher*innen mit zu den Abenteuern des Rama – im Schnelldurchlauf durch ein indisches Epos.
Wir sitzen im Kreis, ausgestattet mit Tee und Punsch vor einer bunt gezeichneten Landkarte. Sie bildet Stationen des indischen National-Epos „Ramayana“ ab – viel Wald, einige Paläste, eine Menge siegreicher Schlachten, Affen-Heere, unüberwindbare Gewässer, Inseln, eine schöne Prinzessin (Sita), einen Prinzen (Rama), zehnköpfige Gestalten, einen 14jährigen Schlaf, ziemlich viel Blut, phantastische Welten (irgendjemand kann fliegen, jemand anderes ist unsterblich…).
Der Berliner Choreograf Felix M. Ott knüpft mit dem kollaborativen Projekt „The Last Migration“ an seine Faszination für mythische Stoffe an. Nach dem „Odyssey Complex” entwickelt er mit den indischen Performer*innen Puja Sarup und Vinod Ravindran eine zeitgenössische Bearbeitung des „Ramayana“ – das sorgt aus mehreren Gründen für eine Menge Gesprächsstoff, was dieses ‚Meeting‘ auch auszeichnet.
Die lapidare-selbstironische Haltung, mit denen die drei für uns (das unwissende, europäische Publikum) den Mythos – bzw. einen kleinen Ausschnitt davon – im Schnelldurchlauf nacherzählen, hat eine lässig-witzige Qualität. Bei all den Seitenarmen der Erzählung, den Verwandtschafts-Verfeindungs- und Liebes-Beziehungen sieht keine*r mehr so ganz durch – von Figurennamen, Orten und Zeiten mal ganz abgesehen. Alle möglichen Figuren tauchen nur kurz in der Erzählung auf: Eine Ehefrau zum Beispiel schläft 14 Jahre stellvertretend für ihren Mann – „that is why, she is usually forgotten“.
Felix Ott, der das Ramayana-Epos nicht selbst gelesen, sondern sich ganz im Sinne der mündlichen Tradierung von seinen Partner*innen in der ersten gemeinsamen Arbeitswoche überliefern lassen hat, fallen vor allem die Parallelen zu den bekannten westlichen Mythen und Legenden auf: irgendwer (klassischerweise der eine Held) muss immer eine Prüfung bestehen (Siegfried tötet den Drachen, Arthur zieht das Schwert aus dem Stein), geht auf Reisen und trifft alle möglichen phantastischen Wesen (Odysseus). Es liegt eine kindliche Faszination in diesen Geschichten, ganz vom Erstaunen abgesehen, wie alt sie sind. Sie alle verweisen auf größere menschliche Konflikte, auf irrationale Lösungen, Magie und Liebe, Tod und Glück. Kein Wunder, dass diese Mythen auch immer wieder politisch vereinnahmt wurden und zur Konstruktion von nationalen Identitäten dienten, als“Gründungsmythen“ herhalten müssen (Nibelungen-Saga)…
Als Ott in Indien zeitgenössischen Theaterschaffenden sein Interesse für das Ramayana kundtat, stieß das nicht gerade auf Begeisterung. Im derzeitigen politischen Klima wird das Epos von den rechten, konservativen Parteien in deren spezifischer Auslegung (Rama als Superheld) beansprucht. Eine zeitgenössische, kritische Bearbeitung kann fast nichts anderes als Provokation sein.
Wie sie sich dieser Schwierigkeit stellen, welche künstlerischen Strategien sie entwickeln können, wie sie mit der Konstellation „weißer Choreograf/ indische Performer*innen“ umgehen werden, waren Themen, die an diesem Abend in kleiner öffentlicher Runde angestoßen und diskutiert wurden, ohne dass es von Seiten der Künstler*innen schon endgültige Antworten dazu gab.
„Time to Meet“ ist ein Format der Tanzfabrik Berlin, in dem künstlerische Prozesse für ein Publikum geöffnet werden – Choreograf*innen und Tänzer*innen treten in Dialog über die eigene Arbeit, formulieren (erste) Ideen, szenische, bzw. choreografische Studien, bereiten Hintergrundwissen zum Konzept und zum künstlerischen Ansatz auf und liefern sich selbst und das Publikum einem Experiment aus: einer Begegnung mit dem Anfang, einem Zwischenschritt, der Zeit vor der Premiere. Darin steckt die Geste einer Einladung und ein geflügeltes Wort, nicht nur: „work-in-progress“.
Teil dieser Verabredung ist also, dass man gemeinsam in einen offenen
Raum eintritt. Keine „Vierte Wand“, dafür ein Deal: Auf der einen Seite
gibt es (noch) nichts Fertiges zu sehen, auf der anderen gemischte
Gefühle zwischen Erwartungshaltung, kritischer Distanz und einem leisen
Anflug von Ehrfurcht – die Ahnung, an einem fragilen, besonderen Moment
teilhaben zu können
…Ein bisschen dazu gehört auch: Wir sind der „inner circle“.
So liegen wir bei diesem „Time To Meet” mit Felix M. Ott und seinem Team erstmal nach ein paar Sonnengrüßen zusammen am Boden. Stimmübungen im Kreis, im Raum ankommen, physical Warm-Up, raus aus der Komfort-Zone, Gemeinschaftsstiftung… Auch wenn sie beim anwesenden, größtenteils eingeweihten Publikum keine wirkliche Angst vor grundlegender Ablehnung zu haben brauchten, boten Ott und seine Kollaborateur*innen damit einen eleganten Einstieg.
Angesichts all der aufkommenden Vermittlungsformate – von
Publikumseinführungen, „Warm-Ups“ bis zu „Cool-Downs“ – macht es
wahrscheinlich gerade im zeitgenössischen Tanz doch einen Unterschied,
in welcher physischen Verfassung ein Publikum eine Aufführung sieht und
dazu gehört am Ende auf beiden Seiten auch Training.
Namaste.