„DARK RED“, Clébio Oliveira und Zula Lemes ©Dieter Hartwig

Tanzritual mit Trauerzeug*innen

Clébio Oliveiras und Zula Lemes’ neues Solo „DARK RED“, das vom 20. bis 23. Oktober 2022 im Acker Stadt Palast zu sehen ist, legt die verschiedenen emotionalen Schattierungen des post-pandemischen, von Verlusten geprägten Körpers frei.

Während auf TikTok gerade der #darkred-Trend mit romantischen Herbst-Videos zu Starbucks Pumpkin Drinks, Kapuzenpullis und Pinterest-Wallpapers zu Ende geht, beschäftigt sich der brasilianische Choreograf Clébio Oliveira in seinem neuen Stück unter dem gleichen Titel mit sehr viel existenzielleren Entwicklungen. Nach „koerper.welle“ (2021) ist „DARK RED“ die zweite Arbeit, die sich einer „psycho-physischen Chronik der Pandemie“ aus Sicht der brasilianischen Diaspora widmet. Oliveiras Herkunftsland ist von der Covid-Pandemie wie kaum ein anderes betroffen: Es weist die weltweit zweithöchste Anzahl an Todesfällen auf, ein Resultat der verheerenden Politik des Präsidenten Jair Bolsonaro. Gerade bricht die letzte Woche vor der Stichwahl an, in der sich entscheiden wird, ob der Nation nach vier Jahren Faschismus wieder die Kurve zur Demokratie gelingt. Die Zukunft schimmert gerade eher düster als verheißungsvoll.

„DARK RED“ ist in Zusammenarbeit mit der Tänzerin Zula Lemes entstanden, deren auratische Ausstrahlung vermutlich jedes noch so große Theater ausfüllen könnte — insofern fühlt es sich wie ein Privileg an, sie auf der verhältnismäßig kleinen Bühne des Acker Stadt Palast zu sehen. Außer einem schwarzen Projektor und einem gleichfalls schwarzen, aufrechtstehenden, nach vorne offenen Rechteck, das an der rechten hinteren Bühnenseite platziert ist und damit wie eine Befestigung der Ecke wirkt, ist der Raum vollkommen leer: eine buchstäbliche Black Box. Auch Zula Lemes ist ganz und gar in Schwarz gekleidet (Kostüme: Atelier Liyanova Migliorati). Durch mehrere übereinander angezogene Kleidungsstücke ergibt sich ein mystisch wirkendes Muster unterschiedlicher Schattierungen von Schwarz. Sie wirkt wie eine Besucherin aus einer nicht-Gegenwart.

Das Stück beginnt in vollkommener Dunkelheit. Im langsam heller werdenden Licht zeichnen sich zunächst die Umrisse von Lemes’ Silhouette ab, bis nach einer Weile ihr Gesicht erkennbar wird. Ihre Augen werden dabei von einem Fernglas verdeckt, durch das sie, ihrer Mimik nach zu urteilen, eine schreckliche Szene zu beobachten scheint. Umgeben von einem Kegel aus Nebel und Licht, der sich zum Publikum hin öffnet und wie eine Fortsetzung des Blicks durch das Fernglas wirkt, rührt sie sich zunächst nicht von der Stelle. Synchron zum Licht breitet sich zäh ein elektronischer Klangteppich aus, zu dessen durchdringenden Tönen Lemes’ Körper schon bald in hilflose Zuckungen verfällt. Ab und zu senkt sie das Fernglas, wodurch ihre weit aufgerissenen Augen für jeweils einen kurzen Augenblick zum Vorschein kommen. Plötzlich gibt sie einen lauten, schmerzerfüllten Schrei von sich, der gleichzeitig ihren Körper und ihre Stimme zu mobilisieren scheint: Den linken Fuß in einer Pantolette humpelt sie über die Bühne, dreht sich im Kreis und wird zwischendurch immer wieder von Besessenheitszuständen verrenkt. Dabei murmelt, spricht, knurrt und singt sie für mich unverständliche portugiesische Wortfolgen, die wahrscheinlich Trauer-Litaneien sind. „DARK RED“ scheint mir von einer grundlegenden Opazität durchzogen, die gleichzeitig vielleicht jeden individuellen Trauerprozess charakterisiert: Die durch Verluste erzeugten existenziellen Erschütterungen können die übliche Kohärenz im Verhalten der meisten Menschen so sehr aus dem Gleichgewicht bringen, dass es für Nicht-Betroffene oft nicht mehr nachvollziehbar wirkt.

Noch nicht einmal die Hälfte der einstündigen Performance ist vergangen, als Lemes in der Ecke angelangt — und dort für den Rest der Aufführung steckenbleiben wird. Von nun an sieht das Publikum vor allem ihren Rücken, ihre um sich schlagenden Hände, ihre zum Rhythmus der Musik sich nervös verselbständigenden Finger. Immer wieder dreht sie sich wie eine Aufziehpuppe um ihre eigene Achse, und während sie mit jeder Drehung an Handlungsmacht zu verlieren scheint, werden sezierende Lichtstrahlen und unnachgiebige Klangsequenzen zu den bestimmenden Akteuren des Geschehens (Lichtdesign: Mirella Brandi, Musik: Matresanch). Der tanzende Körper wird zunehmend zum Spielball äußerer Kräfte, sodass „DARK RED“ bald kein Solo mehr ist, sondern ein ungleiches, multimediales Trio, ein demonstratives Ausstellen der Ohnmacht eines vereinzelten Körpers, dessen Widerstandsfähigkeit längst gebrochen ist. Irgendwann geht Lemes in der Sackgasse der Ecke zu Boden. Die Aufführung endet, wie sie begonnen hat: in buchstäblich aussichtsloser, vollkommener Dunkelheit.

Der Dramaturg Guy Cools schreibt in seinem unlängst erschienenen Buch Performing Mourning von der Wichtigkeit des Bezeugens von Trauer-Prozessen. Trauern müsse als ein genuin gemeinschaftlicher Akt verstanden werden — nur im Beisein von anderen bestehe die Möglichkeit, dass Trauern zu Heilung führen kann. Darin lag für viele die spezifische Trauererfahrung der Pandemie: die Unmöglichkeit, sich anlässlich der Toten zu versammeln, manifestierte gleichzeitig eine Unmöglichkeit des richtigen Trauerns. „DARK RED“ lässt sich vor diesem Hintergrund als eine vom Publikum bezeugte Trauer-Zeremonie verstehen, in dem die rituellen, immer noch wirksamen Wurzeln von Tanz und Performance-Kunst aufscheinen.


Die Tanzperformance „DARK RED“ von Clébio Oliveira mit Zula Lemes ist vom 20.-23.10.2022 im Acker Stadt Palast zu sehen, Tickets unter ackerstadtpalast.de