“The Wonderful and the Ordinary”, Gunilla Heilborn © Johannes Gellner

Tanz im August Interview-Reihe: Gunilla Heilborn

Das Wundervolle bewegt die Erinnerung mehr als das Gewöhnliche. Dieser Satz, ursprünglicher Arbeitstitel des Stücks „The Wonderful and the Ordinary“ („Das Wundervolle und das Gewöhnliche“) inspirierte die Choreografin Gunilla Heilborn dazu, eine Trilogie zu konzipieren, die sich mit dem Wunder und der Last der Erinnerung beschäftigt.

Wie verlief deine Recherche zum Thema Erinnerung?

Der Titel „The Wonderful and the Ordinary“ („Das Wundervolle und das Gewöhnliche“) ist dem Buch „The Art of Memory“ („Die Kunst der Erinnerung“) von Francis A. Yates entnommen. In ihrem Buch skizziert Yates verschiedene Lerntechniken, die genutzt wurden, um Informationen über lange Zeiträume hinweg zu bewahren und sich an sie zu erinnern – vom antiken Griechenland und dem römischen Reich bis hin zum Mittelalter und der Renaissance. Die Autorin beschreibt, dass es in den ersten Demokratien besonders wichtig war, ein*e gute*r Sprecher*in zu sein, um die Menschen von einer bestimmten Meinung oder Handlungsweise zu überzeugen. Ein gutes Erinnerungsvermögen kann einem da helfen, weil man so bessere Geschichten erzählen kann. Menschen, denen es leichtfällt, Informationen abzurufen, hört man gewöhnlich interessierter zu. Neben Yates haben ich auch „The Memory Illusion“ („Die Erinnungesillusion“) von Julia Shaw gelesen, in dem es um die Schaffung falscher Erinnerungen geht. Außerdem fand ich „Moonwalking with Einstein“ von Joshua Foer interessant, das der Autor hier beschreibt, wie er sein Erinnerungsvermögen so entwickelt hat, dass es ihm gelang, einen neuen amerikanischen Rekord im speed cards Kartenspiel aufzustellen. Außerdem haben wir uns in unser Recherche mit dem Hyperthymestischen Syndrom (HSAM) beschäftigt. Personen mit diesem Syndrom sind in der Lage, sich im Detail an jeden einzelnen Tag ihres Lebens zu erinnern. Sie können sowohl Ereignisse einem bestimmten Datum im Kalender zuordnen als auch abrufen, was sie an jedem beliebigen Tag zum Mittag gegessen haben. Das ist beeindruckend, führt aber gleichzeitig zu der Frage: Wünscht man sich so ein Erinnerungsvermögen wirklich? Es könnte sicher auch ganz schrecklich sein! Manchmal ist es ja auch gut, etwas zu vergessen.

Welche Erinnerungstechnik hast du mit deinen Performer*innen ausprobiert?

Wir haben mit einem Gedächtnispalast (Memory Palace) gearbeitet. Das ist eine Technik, die Bilder nutzt, um neue Informationen an einem vertrauten Ort abzulegen – wie zum Beispiel deinem Zuhause. Ich habe die Performer*innen gebeten, sich die Häuser vorzustellen, in denen sie aufgewachsen sind und in ihnen eine Reihe von willkürlich ausgewählten Objekten zu hinterlegen. Es stellte sich heraus, dass das eine absolut effektive Technik war! Deshalb haben wir entschieden, einen Gedächtnispalast für Wissen zu nutzen, das wir persönlich nützlich finden – ganz gleich, ob es sich dabei um die Namen von österreichischen und schwedischen Abfahrtskier*innen handelt, um historische Personen und die Namen ihrer Hunde oder wichtige Fakten der norwegischen Geschichte. Die Performer*innen werden ohne Zweifel ihre gewählten Themen und die dazugehörigen Informationen für den Rest ihres Lebens in Erinnerung behalten!

Warum ist das Erinnern so wichtig?

Auf persönlicher Ebene ist es, glaube ich, wichtig, dass wir uns an Ereignisse erinnern, die wir mit Anderen geteilt haben. Wenn du dich nicht an die Dinge, die du mit jemandem erlebt hast, erinnern kannst, verlierst du deine gemeinsame Geschichte mit dieser Person.  Auf gesellschaftlicher Ebene ist es wichtig, dass wir von katastrophalen Ereignissen wie zum Beispiel Kriegen wissen und diese nicht in Vergessenheit geraten. Auf der anderen Seite geht es nicht um eine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Nostalgie kann, vor Allem wenn sie zur Grundlage politischer Einstellungen wird, gefährlich werden. Deshalb geht es auch um die Frage: Warum sollten wir uns nur an die monumentalen Ereignisse erinnern? Vielleicht ist es ebenso wichtig, sich an die kleinen Dinge zu erinnern, aus denen unsere alltägliche Realität besteht? Für dieses Stück haben alle Teilnehmenden für einen Monat im Frühling 2017 Tagebuch geführt. Wir haben alle ganz gewöhnliche Erlebnisse dokumentiert, wie zum Beispiel, dass wir Kaffeetrinken waren oder neue Schuhe gekauft haben. Dann gab es plötzlich einen terroristischen Anschlag in Stockholm. Da habe ich plötzlich gemerkt, dass ich mich ohne das Tagebuch an nichts Anderes als den Anschlag in dieser Zeit erinnert hätte. In unserem Stück allerdings stellen wir dieses große Ereignis neben Alltäglichkeiten des Lebens.

Hast du ein gutes Erinnerungsvermögen?

Ja, ich habe eine gute autobiografische Erinnerung. Ich kann mich an Dinge, die mir passiert sind, erinnern und weiß, was ich wann gemacht habe und was ich dabei anhatte. Es ist, als hätte ich eine Stimme in meinem Kopf, die mir sogar schon, während ich etwas erlebe, eine Geschichte von diesen Ereignissen erzählt, so als wären sie schon passiert. Ein Tagebuch zu führen kann einem dabei helfen, sich an diese Geschichten zu erinnern. Es hilft einem dabei, seine eigenen Erinnerungen zu formen.

Deutsche Übersetzung von Mieke Woelky


Eine Kooperation zwischen dem Tanzbüro Berlin und Tanz im August 2019
Unsere Tanzschreiber-Autor*innen Alexandra Hennig, Beatrix Joyce und David Pallant wurden eingeladen, die Tanz im August 2019 Künstler*innen Nora Chipaumire, deufert&plischke, Nicola Gunn, Gunilla Heilborn und Claire Vivianne Sobottke zu interviewen. Alle Interviews werden auf www.tanzschreiber.de und www.tanzimaugust.de/magazin veröffentlicht.