Cranky Bodies. Dance Reset, 2017 ©Lutz Gregor

Spuren lesen – Peter Pleyer im Interview

Nicht nur als Tänzer und Choreograf, sondern auch als Dramaturg, Dozent und Leiter der Tanztage in den Sophiensælen (2007-2014) ist Peter Pleyer seit 20 Jahren beobachtender Teilnehmer der Tanzszene in Berlin. Hier erzählt er von seiner eigenen Vergangenheit, der Gegenwart mit COVID-19 und der nahen Zukunft einer sinnvolleren und effektiveren Vernetzung des ebenso vielfältigen wie prekären zeitgenössischen Tanzes in Berlin.

Interview: Jette Büchsenschütz

Jette Büchsenschütz: In Deiner Performance „Ponderosa Trilogy“ (2014) nennst du Dich den Sohn von Robert Rauschenberg und Steve Paxton. Inwiefern haben ausgerechnet diese beiden Deine choreografische Entwicklung beeinflusst?

Peter Pleyer: Es geht gar nicht so sehr um den Einfluss, den die beiden auf meine choreografische Arbeit haben. Die Anekdote geht zurück auf mein erstes Solo, das ich in Berlin gemacht habe, „Choreographing Books“ (2005). Darin kommt ein Buch von Jill Johnston vor, einer Kritikerin, die die Judson Church schreibend begleitet hat und selbst eine lesbische Frau ist. In ihrem Buch plaudert sie sozusagen aus dem Nähkästchen; über die Judson Dance Theater-Clique und die Cunningham Company. Und sie schreibt über Robert Rauschenberg, Cage und Cunningham, die ja immer sehr zurückhaltend waren mit Aussagen über ihre Sexualität. Es waren die 1950er und 60er Jahre! 

Jill Johnstons Erzählungen haben mich sehr angesprochen. Mich interessieren diese Geschichten, die unter dem Teppich liegen oder hinter dem Vorhang passieren. Die nicht offensichtlich sind, wo man nicht glaubt, was man sieht, sondern nachfragt und in die Ecken schaut. Und ebendort habe ich gelesen, dass zur Zeit meiner Geburt Steve Paxton und Robert Rauschenberg ein Paar waren. Damit war mir total klar, dass in einer anderen, utopischen, fantastischen Welt, der Sex den sie gehabt haben, mich hätte erweckt haben können; mein Leben in Bezug zur Tanzgeschichte!

Du bist im Dezember 2000 nach Berlin gekommen, also vor genau 20 Jahren. Wie hat sich die Tanzszene seitdem verändert?

Ach so viel! Als ich hierhergekommen bin, war ich schwer beeindruckt davon, dass es drei Ballettensembles gab. Kresnik war an der Volksbühne, es gab die Tanzfabrik, das DOCK11, die TanzTangente, Sasha Waltz… Und ich dachte, es ist toll, in eine Stadt zu kommen, in der es wahnsinnig viel gibt im Tanz. Aber ich merkte dann doch schnell, dass es in den freien Strukturen an sehr vielem mangelt – auch die Qualität war recht fragwürdig. Ich habe zwischen 2002 und 2005 sehr viel Tanz gesehen, der mir nicht gefallen hat. Die Miete war nicht so hoch, ich hatte einen Job und sehr viel Zeit, um viel zu sehen und zu versuchen, die Strukturen dahinter zu durchschauen – was nicht so einfach war. 

Der ZTB – Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V. wurde ebenfalls in diesem Jahr gegründet. Barbara Friedrich war die erste Vorsitzende und hat auch in ihrer Rolle als Leiterin der Tanztage Berlin unglaublich viel für die freie Szene erreicht. Ich war im Vorstand des ZTBs und damit 2006 auch Mitbegründer des HZTs (Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin, Anm. d. Red.). In diesem Sinne ist natürlich wahnsinnig viel passiert in diesen letzten 20 Jahren. Aber es gab auch genügend Rückschläge. Alle drei Ballettkompanien wurden zu einer abgewickelt, Kresnik ist verschwunden, es gibt keine feste Tanzkompanie mehr an der Volksbühne oder an irgendeinem anderen Theater, und Sasha Waltz leitet nicht mehr das Staatsballett. Strukturell hat sich eigentlich nicht so wahnsinnig viel getan seitdem.

Und qualitativ?

Qualitativ schon. Nicht nur mit der Etablierung des HZTs sondern auch mit der Gründung der Tanzwissenschaften im Jahr 2005. Damit hat sich natürlich auf dramaturgischer Ebene und wie über Tanz gesprochen und geschrieben wird, sehr viel verbessert. Aber dadurch, dass es noch zu wenig strukturelle Förderungen im zeitgenössischen Tanz gibt, kann sich wenig verfestigen. Ich sehe es bei mir selbst: eins meiner großen Defizite ist, dass ich zu wenig kämpferisch bin.

Was ist der Hintergrund der Gründung der Company Cranky Bodies? Wieso gerade jetzt während der Pandemie – und in Deinem Fall vielleicht auch jetzt erst – eine Company gründen? 

Der Gedanke eine Company zu gründen, wuchs stetig mit meinen Stücken, die seit 2014 entstanden sind. In diesem Jahr war ich eingeladen worden, mein Solo „Ponderosa Trilogy“ am Tanzhaus Düsseldorf zu zeigen und habe meine erste Förderung in Berlin für mein größeres Gruppenstück „Visible Undercurrent“ bekommen. Die Company wuchs mit der Idee, dass hier Tänzer*innen, Musiker*innen und bildende Künstler*innen gemeinsam arbeiten, gemeinsam lernen und produzieren können. 

Die Gründung hat tatsächlich weniger mit der Pandemie zu tun als mit der Unterstützung vom DOCK11 und der Wiederaufnahmeförderung für „Cranky Bodies“, die zu diesem Zeitpunkt existierte. Es ging weniger darum eine Company wie die von Sasha Waltz oder Toula Limnaios zu gründen, sondern vielmehr zu untersuchen, was eine Company im 21. Jahrhundert bedeuten kann. Die Company als Research-Projekt. Was bedeutet es, wenn wir uns so nennen?

Und was könnte es bedeuten?

Eine Company gibt Zusammenhalt, mit ihr können andere Gelder beantragt werden, sie kann anders auftreten. Die Gründung von Cranky Bodies ist das Resultat und die Verstetigung von sechs Jahren Arbeit in dieser Gruppe.

Was können wir uns unter „cranky“ Bodies vorstellen?

Tatsächlich gibt es hier einen historischen Bezug zu dem Stück von Stephanie Skura, „Cranky Destroyers“ (1988), das Ende der 1980er Jahre international sehr viel bedeutet hat. Cranky meint Körper, die nicht mainstream, nicht unbedingt jung sind, sondern schließt alle möglichen Körpertypen mit ein. Ich habe selbst nicht unbedingt einen Tänzerkörper. Sicherlich auch ein Programmpunkt für die Zukunft: immer mehr cranky werden!

Foto: Peter Pleyer ©Jens Wazel

Was können wir oder sollten wir – damit meine ich jetzt besonders die Tanzschaffenden – aus den mittlerweile zwei Lockdowns lernen? Diese Frage wird ja in der Kunstwelt sehr aufgeregt und kontrovers diskutiert. 

Was mir gefällt, ist, dass Leute plötzlich mehr spatial awareness haben. Sie lernen Abstände einschätzen und einhalten und Platz füreinander zu machen, auch wenn die Motivation dahinter sicherlich nicht Respekt, sondern Angst ist. Was mir persönlich wichtig ist, dass man selbst mehr Bewegungsfreiheit hat. Das ist mir z.B. auf der Black Lives Matter Demonstration aufgefallen, wo nicht mehr dicht an dicht in eine Richtung marschiert wurde, sondern die Menschen in der Distanz Verbindung aufzunehmen wussten. Der räumliche Abstand ermöglicht bestenfalls andere Perspektiven einzunehmen. Dies sind Aspekte, die mir an der Pandemie auch Spaß machen. 

Aber auch über den Aspekt der Berührung denke ich nach: Wenn man sich nicht physisch berühren darf, welche Tools können dann benutzt werden, um diese energetische Verbindung herzustellen, die eben ganz anders funktioniert als eine visuelle Berührung. Gibt es die Möglichkeit das Herz zu öffnen? Können wir mehr über die Augen kommunizieren? Gibt es vielleicht Möglichkeiten des Energieaustauschs, die wir noch nicht untersucht haben, die plötzlich wichtiger sein könnten als die physische Berührung? Wir müssen uns auch nicht immer sofort um den Hals fallen, sondern sollten auch hier abwägen. Wessen Nähe brauche ich wirklich, zu wem möchte ich mehr Abstand einhalten?

Eigentlich hast du damit meine letzte Frage, die ich dir jetzt stellen wollte, schon beantwortet. Ich frag dich trotzdem nochmal: Ist vielleicht Tanz besonders geeignet, genau die Medizin sein, die unsere Körper jetzt während der Corona-Pandemie brauchen, wie es die Tanzkritikerin der New York Times, Gia Kourdias, bereits im April beschrieben hat?

Ich glaube auch, dass wir als Tänzer besser ausgerüstet sind, mit den Beschränkungen umzugehen. Aber uns fällt auch umso mehr auf, was uns allen gerade fehlt. In Gruppen zusammen zu sein – um noch einmal zurückzukommen auf Cranky Bodies –, ist einfach etwas anderes: Wenn man zu neunt eine Stunde lang zusammen tanzt und komponiert, kann sich so viel Wissen artikulieren! Die gemeinsamen Wahrnehmungen in der Abstimmung und im Timing – es ist wahnsinnig viel, was jetzt fehlt.

Am 25.11.2020 im DOCK11 EDEN*****, Berlin


Zur Webseite >>> Cranky Bodies a/company