„Skinned“, Mirjam Gurtner © Gerhard F. Ludwig

Spieltheorie

Miriam Gurtners „Skinned“, das Eröffnungsstück der Tanztage Berlin 2019, lässt Improvisation in streng abgestecktem Rahmen stattfinden und schafft so ein widersprüchliches, herausforderndes Werk, das jede zusammenhängende Interpretation Lügen straft. Intuition und Kunstfertigkeit verbindend stellt es sich eine schwierige Aufgabe, aber die Großzügigkeit, von der es durchdrungen ist, hält uns bei der Stange.

Während wir im Halbkreis auf dem Boden sitzen und darauf warten, dass „Skinned“ beginnt, erlaubt mir die strahlende Beleuchtung, das Publikum und die vier lächelnden Performer zu betrachten, die unter uns sitzen, unübersehbar in ihren abgeschnittenen braunen Kostümen. Die Wände des hell erleuchteten Raums bleiben die ganze Zeit deutlich sichtbar, so dass das Werk in einem sich selbst genügenden Kosmos zu existieren scheint, ein vorübergehendes Ereignis, unberührt von der Außenwelt.

Ich bemerke fast nicht, wie das Stück beginnt. Zwei der Performer treten in den Raum zwischen uns und sinken, gegeneinander gelehnt, langsam zu Boden. Das Geräusch ihres Atems und ihrer Füße auf dem Boden wird von schlanken Mikrophonen, die wie Pendel von der Decke hängen, aufgenommen und in eine Geräuschkulisse verwandelt. Die Tänzerinnen reagieren mit kleinen abstrakten Bewegungen aufeinander und mir scheint, als wollten sie mich auf einen Weg führen, der mir von anderen Instant Composition-Stücken bekannt ist. Während die Tänzerinnen ihren geheimnisvollen Spielen und versteckten Codes folgen, werde ich entweder versuchen, sie zu dekodieren oder die Freiheit genießen, die mir ihre Mehrdeutigkeit eröffnet. Aber es wird schnell klar, dass die Aufgabe der Performer wenig Analyse braucht. Alle vier kommen in der Mitte des Raumes zusammen und halten einander die Münder zu, werden zu einer Art erstickendem Haufen Körper, bis einer keine Luft mehr kriegt und sich nach Atem ringend herauswindet. Immer wieder werfen sich Tänzer*innen mit dem Gesicht voran zu Boden und werden im letzten Moment von anderen gerettet, die mit ihren Körpern den Fall auffangen. Sie greifen geräuschvoll nach dem Fleisch der anderen. Es zieht sich zusammen, Haut gleitet über schweißbedeckte Haut. Ein Techniker, der den Performern eifrig mit einem Mikrophon folgt, nimmt die entstehenden Geräusche auf und verstärkt sie.

Die Bemühungen der Tänzerinnen scheinen deutliche Auswirkungen auf die Eingeweide haben, wirken dabei aber gleichzeitig so klar definiert und einstudiert, dass das Gefühl echten Risikos aufgehoben wird. Und trotz gewaltiger Ausbrüche von Energie, werde ich den Eindruck nicht los, dass das Geschehen von einem akribischen externen Orchestrator gesteuert wird – jeder vorübergehende Kontrollverlust findet in sorgfältig kontrolliertem Umfeld statt. So wandert meine Aufmerksamkeit von den Momenten kulminierenden Risikos in Richtung ihres unausweichlichen Nachhalls: dem Strom der flüchtigen Mikro-Expressionen der Tänzerinnen, dem Heben und Senken der Schultern eines atemlosen Tänzers, der seinen Kollegen zusieht, dem rätselhaften Ausdruck auf dem Gesicht eines anderen, während er einen Körper betrachtet, der gerade bis zur Erschöpfung hin- und hergestoßen wurde.

Auch wir, die Zuschauer, werden entblößt. Wir werden zu Werkzeugen, Hindernissen, ARuheorten für die Tänzer*innen. Wir werden aufgefordert, einander zu betrachten und betrachtet zu werden. Unter dem Flutlicht haben weder die Performer noch die Zuschauer einen Ort, sich zu verstecken. Vielleicht ist diese Bloßstellung ja genau das, worauf „Skinned“ hinaus will, mehr noch als auf die körperliche Verletzlichkeit.

Manchmal im Laufe der Performance, werden die Lichter auf gewohnten Theaterstandard gedimmt. Unsere Aufmerksamkeit wird gefesselt und für einen Moment können wir die anderen gespannt schauenden Gesichter vergessen. Die Bewegungen auf der Bühne werden zögerlich und unverständlich. Eine seltsame Intimität breitet sich aus. Versucht sich da eine dunklere, unsicherere Stimme Gehör zu verschaffen? Zeigen sich Risse in der Liebenswürdigkeit der Tänzerinnen? Die Begegnungen sind jetzt nicht mehr spielerisch, es sind komplexe Verhandlungen, so als ob das Stück versuchte, seine selbst auferlegten Grenzen zu überschreiten und ich beginne den ‚Verlust der Sicherheit’ wahrzunehmen, den der Programmtext beschreibt. Plötzlich wird es wieder hell, zwei Tänzerinnen beginnen mit einer dritten Fangen zu spielen, sie an ihrem Kopf hin und her zu stoßen als wäre sie ein Ball. Die Spiele beginnen jetzt ernsthaft, scheinbar ungerührt, und ich fange an, an der Bedeutung zu zweifeln, die ich den mehr stummen Momenten zugeschrieben habe.

Deutsche Übersetzung von Bettina Homann