tanzschreiber Year Review 2018

Tanzschreiberinnen Rückblick 2018

von Sasha Amaya, Alex Hennig, Christine Matschke & Johanna Withelm

Das Tanzschreiberinnen-Quartett hat sich zu einem gemeinsamen Rückblick getroffen. Neben dem Rückblick auf einzelne Tanzaufführungen kehren sie immer wieder zum Schreiben selbst zurück. Es folgen: Bekenntnisse, Strategien, Highlights und Ärgernisse der vier Schreiberinnen.  


Welche Themen haben uns bewegt?

Alex: Wenn im Ballhaus Naunynstraße politische Themen von Widerstand, Empowerment, Rassismus und Körperbildern choreografisch bearbeitet werden, die Tanzfabrik mit ihrem 40-jährigen Jubiläum auf ihre Anfänge zurückblickt und Tanz im August mit den drei Bearbeitungen der „Großen Fugen“ eröffnet wurde, tun sich wirklich Welten auf. Obwohl, de Keersmaker gab es zweimal: mit „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ von Bach in der Volksbühne und als ein Teil der genannten drei Beethoven-Fugen. Zweimal so richtige „Hochkultur“. Da bin ich ganz froh, am Anfang des Sommers noch Jule Flierls Bearbeitungen der Valeska Gertschen „Stimmtänze“ gesehen zu haben. Groteske Körperbilder, verzerrte Stimmgewalt, eine Hommage an die vielleicht erste Punkerin der Tanzmoderne.

Christine: Sicherlich war das Spektrum an verschiedenen Ästhetiken und Themen auch dieses Jahr breit – Diversität wird in der Berliner Tanzszene großgeschrieben, und das ist gut so. Ich denke, eine nach wie vor aktuelle Frage ist die nach gegenwärtigen und zukünftigen Formen des Zusammenlebens und -arbeitens. „THE HALF“ (WA) von Diego Gil, Igor Dobričić und Team oder „Projecting [Space[“ von Meg Stuart wären zwei Beispiele dafür. Das hat für mich auch mit der Frage zu tun, wie verbindlich wir heutzutage noch sein wollen und können. Viele Künstler*innen und Kulturschaffende haben keine Möglichkeit, mit viel Zeit kontinuierlich in einem festen Kollektiv an etwas zu arbeiten. Müssen wir uns an temporäre Gemeinschaften gewöhnen, und was macht diese eigentlich aus? Ich wünsche mir mehr Kontinuität und Möglichkeiten zu einem beständigen Austausch. Wie soll sonst etwas wachsen?
 


Welche Stücke haben uns nachhaltig beschäftigt?

Sasha: Das Stück, das mich am nachhaltigsten beschäftigt, ist Nora Chipaumires „portrait of myself as my father“. Dieses Stück hat mich erschöpft, fertig gemacht, erschreckt und mich ganz wund zurück gelassen – genau so wie es sein soll. Nach der Aufführung war ich kurz davor, in Tränen auszubrechen. Das Stück hat mir eine körperliche Erfahrung vermittelt, die nicht meine eigene war, ein neues Verständnis. Und mit der Zeit hat es mir sogar eine Art Feuer und Kraft für neue Situationen gegeben.

Christine: Nach wie vor: „Still Lives“ von Naoko Tanaka. Sie hat eine tolle Möglichkeit gefunden, Bildende Kunst und Choreografie miteinander zu verbinden. Ja, und dann mein persönlicher Favorit von Martin Nachbar im Theater Thikwa beim „TANZABEND 4 – Identität ist sowieso Quatsch“. Eine sehr humor- und fantasievolle Arbeit, die ein gutes Gespür des Choreografen für die Talente der einzelnen Darsteller*innen erkennen lässt. Auch dramaturgisch war das gut gesetzt.

Alex: Bei mir sind einige Stücke hängen geblieben, die eher leise, gar nicht sospektakulär daher kamen. Lee Méir mit „Line Up“, das hat nachgehallt: die Figurder Wiederholung, das Aushalten-Müssen von Sprache und Vergänglichkeit. Wie siedurch diese Linie von Eisen und Metallstangen läuft, das hat mich berührt, weiles so eine persönliche Arbeit war. Außerdem Lina Gómez mit „A Passo Di Mulo“ –rückwärts in die Vergangenheit. Wie bewegen sich Menschen durch die Welt:Flucht, Migration, Lebenswege und dazu diese typische eindringliche Musik undphysikalische Kraft und Poesie, die ich in ihren Stücken sehe.

Johanna: „Blue-sky thinking“ von Rubato. Ein Stück das mich irgendwie berührt hat, vor allem wegen der leisen politischen Kraft und der aufrichtigen Haltung der Protagonist*innen. Und “Restraint” von Lina Gómez; das hatte so eine kraftvolle Dringlichkeit, die mich körperlich mitgerissen hat, und lange nachhallte.


Welche Stücke würden wir nochmal anschauen?

Christine: Da gibt es sicherlich ein paar, die ich mir nochmal anschauen würde. Fragt sich bloß, wann die wieder aufgenommen werden. Das ist ja nicht immer selbstverständlich.

Alex: …vielleicht müsste ich Sergiu Matis´ „Neverendings“ noch einmal sehen mit Simultan-Übersetzung für Russisch und jemandem, der mir die ganzen Bezüge zu den Künstler*innen und Revolutionären erklären kann.

Sasha: Ola Majiewskas „Bombyx Mori“ ist für mich eines der erstaunlichsten Stücke des Jahres. Es hat mich daran erinnert, warum ich mich überhaupt mit Kunst beschäftigen wollte. Es sprach durchgehend auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig: körperlich, flüchtig, visuell, konzeptionell und theoretisch.


Welches Stück würden wir Freunden empfehlen?

Sasha: Ich fand Maija Hirvanens „Art& Love” Lecture-Performance phantastisch, charmant, provokant und ungewöhnlich. Sie hat so viele neue Sichtweisen für alte Themen aufgezeigt und zur Sprache gebracht. Deshalb würde ich dieses Stück unbedingt empfehlen. Allen, die an leisen subtilen Arbeiten interessiert sind, würde ich außerdem Milla Koistinens Darstellung von „On a Clear Day“ ans Herz legen, die unglaublich schön, technisch und unterschätzt war.

Johanna: Für Interessierte an Bildender Kunst: „Inside Out” von Isabelle Schad. Für Performance-Interessierte: „If You Ask me…” von Liz Rosenfeld. Für meine Mutter, und für alle, die selbst gerne tanzen: „Blue-Sky thinking“ von Rubato.

Christine: Das hängt von der Person ab. Aber um es mal etwas allgemeiner zu fassen: Clément Layes´ Arbeiten sind etwas für alle Generationen, die kann ich mir auch gut für junges Publikum vorstellen. Meg Stuart empfehle ich für alle, die auf energetisches Choreografieren stehen. Angela Schubot und Jared Gradinger – posthumane Selbstvergessenheit: mit geschlossenen Augen in der Bühnensonne liegen und merken, wie Wolken vorbeiziehen. Das Verlin mag ich als Aufführungsort. Auch weil das, was man dort sieht, oft humorvoll ist.

Alex: Meine Nicht-Theater/Tanz-Freund*innen würde ich erst zu de Keersmaeker und dann zu Jule Flierl mitnehmen. Ballhaus Naunynstraße sowieso; da müssen vor allem weiße Leute noch öfter hin. Cécile Bally könnte ich vielen empfehlen, weil man einen guten Abend haben kann. Ich finde, Humor ist wohl ein etwas unterschätztes Mittel im zeitgenössischen Tanz. Lina Gómez empfehle ich meinen Tanz-Freund*innen und allen anderen.


Warum haben wir uns für (das Schreiben über) diejeweiligen Stücke entschieden? Wie haben wir unsereAuswahl getroffen?

ACJS: Wir versuchen, einen guten Mix aus interessanten Choreograf*innen und Spielorten hinzubekommen. D.h., auch mal die Komfortzone an eigenen Sehgewohnheiten zu verlassen. Selbstverständlich hängt das immer davon ab, wie es zeitlich passt.


Wie gehen wir damit um, wenn wir keinen Zugang zueinem Stück finden, indifferent gegenüber dem Gesehenen sind?

Alex: Das ist eigentlich das Schlimmste (und passiert mir doch auch öfter), dass ich nach einem Stück nach Hause komme und mich so indifferent fühle. Mir schon klar ist, dass Arbeit, ein Interesse und auch eine körperliche Recherche dahinter steckt, aber mich die Umsetzung irgendwie nicht wirklich gekriegt hat. Das ist oft bei Stücken so, die in erster Linie konzeptuell oder allzu selbstreferentiell gestaltet sind. Ich versuche dann aber meistens doch, irgendeinen Ansatz zu finden, einen Moment oder ein Gefühl – aus einer Beobachtung, einer Frage. Ich sehe das Stück manchmal wirklich noch einmal mit anderen Augen. Einen Text über etwas zu schreiben, setzt schon voraus, irgendein Interesse daran aufzuspüren. Wenn man nicht nur schreiben will „Die haben sich irgendwie bewegt, hat mir nichts erzählt“. Aber das ist manchmal gar nicht so leicht.

Sasha: Ich versuche, mir die Ziele und Interessen der Künstler*innen bewusst zu machen und herauszufinden, wie sie sozusagen ihr Problem „gelöst“ haben. Wenn ich versuche, so zu denken, wie sie es tun, fühle ich mich fast nie verloren. Es macht mir nichts aus, Stücke zu sehen, die nicht „funktionieren“ oder die in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung stecken. Ich finde es wichtig, dass Experimente möglich sind und auf der Bühne auch Dinge stattfinden, die nicht so gut funktionieren.

Johanna: So geht es mir ziemlich oft. Aber im Schreiben merke ich dann meistens, dass ich doch eine Haltung dazu habe, manchmal entwickelt die sich erst im Prozess des Schreibens. Die Stücke leben mit dem Schreiben weiter und verändern sich manchmal auch im Nachgang: Es kann passieren, dass etwas, das ich beim Sehen genossen habe, im Text weniger gut wegkommt, oder Stücke, mit denen ich beim Sehen wenig anfangen konnte, im Schreiben und Reflektieren dann doch interessant werden. Und wenn alles nichts hilft, kann es gut sein, sich mit der eigenen Ratlosigkeit im Text zu outen und eben darüber zu schreiben. Das ist oft fruchtbarer für den Text als ein angestrengter Versuch, etwas oder jemandem gerecht zu werden.

Christine: Ich finde, oft reagieren wir viel zu schnell. Ganz schrecklich finde ich es deshalb auch, ein Stück sofort nach der Aufführung zu beurteilen. Meist schlafe ich eine Nacht darüber, außer es beschäftigt mich so sehr, dass die Gedanken quasi direkt aufs Papier wollen. Wenn ich einem Stück ratlos gegenüber stehe, versuche ich einen Ansatzpunkt zu finden, mich reinzufuchsen. Ich mache ein Brainstorming und/oder recherchiere nochmal. Ich finde, meine Ratlosigkeit bedeutet nicht gleich, dass ein Stück nicht gelungen ist. Und wie Johanna schon sagt, der Blick auf ein Stück kann sich beim Schreiben verändern.


Was sind Gründe dafür, dass wir etwas nicht mögen?

Christine: Wenn der Verlauf einer Performance zu vorhersehbar ist. Oder noch schlimmer: Wenn der Begleittext zu einem Stück mit philosophischen Ansätzen überladen ist, einem Anspruch, besonders intelligent rüberkommen zu wollen. Total genervt hat mich die Laufsteg-Atmosphäre in „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ von Anne Theresa de Keersmaeker, die Hunde- und Nummernboy-Einlage/n. Das kam aufgesetzt rüber. Auch hatte ich das erste Mal bei de Keersmaeker das Gefühl, in einem Ballett zu sitzen. Erstaunlich bleibt, wie sich die Musikalität in den Bewegungen der Tänzer*innen in geometrisch-präziser Lässigkeit auf einen selbst überträgt. Ich hatte das Gefühl, mich ganz wendig, fast fliegend durch das aus der Volksbühne strömende Publikum bewegen zu können. Was mir in der Berliner Szene fehlt, sind Stücke, die aktuelle politische Geschehnisse thematisieren.

Johanna: Manchmal mag ich Sachen nicht, weil sie mich bevormunden oder ausgrenzen. Manchmal, weil sie mich peinlich berühren (das kann aber auch ein Grund sein, etwas zu mögen). Manchmal mag ich etwas nicht, weil sich jemand keine Mühe gegeben hat, manchmal, weil ich die Protagonist*innen unsympathisch finde. Oder weil ich merke, dass sie nichts mit mir zu tun haben. Ich glaube, dass es beim Sehen von Stücken ganz viel darum geht, ob wir einen Teil von uns selbst darin erkennen können.

Alex: Wenn ich nicht nur ratlos sondern verärgert bin, hat das oft mit der Haltung der Tänzer*innen/Performer*innen auf der Bühne zu tun, die ich manchmal als verschlossen oder „too cool“ empfinde. Wenn ich das Gefühl habe, jemand hat nicht wirklich ernsthaft gearbeitet oder riskiert gar nichts, sondern stellt sich auf die Bühne mit einer Attitüde von „ist doch klar, dass das geil ist, was ich mache, weil ich es bin.“ Oder wenn ein Stück politische Themen für sich beansprucht als Legitimation, aber man merkt, dass sich damit nicht wirklich beschäftigt wurde. Ganz schlimm finde ich, wenn Klischees einfach nur ausgestellt und wiederholt werden und das dann kritisch sein soll. Schwierig auch, wenn es so gar keinen Platz für Humor gibt, wenn sich ein Stück selbst zu ernst nimmt. Schwer ertragen kann ich außerdem: pseudo- intellektuelle Monologe/Dialoge oder Tänzer*innen, die ihre Bewegungen die ganze Zeit überkommentieren (von wegen: „yes and now I enter the floor, I place myself here, I am a dancer“). Generell: Text auf der Bühne, wenn dieser schlecht geschrieben oder gesprochen ist – ganz ganz schlimm! Aber es ist so interessant, was einen angreift und was man nicht aushalten kann – oft sagt es ja im Umkehrschluss auch etwas über einen selbst aus.   

Sasha: Über Tanz zu schreiben, hat bei mir dazu geführt, dass ich Tanz im Allgemeinen viel mehr wertschätze. Bevor ich darüber geschrieben habe, gab es viele Stücke, die ich nicht mochte, mit denen ich unzufrieden war. Jetzt ist das viel seltener der Fall. Es gibt immer etwas Interessantes und der Prozess des Schreibens macht mir oft deutlich, was das ist. Wenn ich ein Stück dennoch nicht mag, liegt das meistens daran, dass es gleichzeitig komplex und langweilig ist, irgendwie selbstbezogen. Ich mag es wirklich nicht, wenn Stücke egoistisch sind oder, noch schlimmer, nur für eine bestimmte Clique gemacht.


Wie beginnen wir mit dem Schreiben? Was mögen wir am Schreiben?

Christine: Da habe ich kein Schema F. Manchmal schreibe ich erst einmal drauf los. Ein anderes Mal suche ich nach Anfängen und tue mich schwer. Schreiben ist eben doch ein sehr persönlicher Prozess. Wie sagte ein Freund mal zu mir: „Du kannst die Sachen nicht einfach abarbeiten.“ Schreiben über Tanz hat für mich mit Leidenschaft zu tun, im positiven wie negativen Sinne. Denn das Schreiben über Tanz ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Man kann immer nur „einkreisen“, worum es geht. Aber dieses Einkreisen, diese Annäherung ist ein Erkenntnisprozess, den man durchlebt, und das gefällt mir daran.

Sascha: Tanzen und Schreiben waren lange Zeit voneinander getrennt für mich und ich fing plötzlich und eher zufällig an, über Tanz zu schreiben! Das war eine tolle Sache, und jetzt habe ich viel Zeit damit verbracht, den Tanz durch Worte auf eine ganz neue Weise zu beobachten und zu denken. Vor allem hat das Schreiben über Tanz mein Gedächtnis geschärft und mich auch großzügiger gemacht. Ich genieße auch das Wortspiel, das manchmal nach einer Aufführung entsteht.

Johanna: Der Anfang ist meistens schwer, manchmal dauert es sehr lange, bis mir einer einfällt. Wenn es den dann gibt, wird es meistens besser. Manchmal funktioniert automatisches Schreiben als Strategie um diese erste Blockade zu überwinden.

Ich mag das Schreiben, weil ich damit meine Gedanken, Positionen, Haltungen einordnen und besser verstehen kann. Es gibt aber auch das permanente Selbsturteil: Wenn ich das Gefühl habe, etwas Gutes zu produzieren, pusht mich das nach vorne, wenn ich mein Geschriebenes selbst nicht mag, fühle ich mich schlecht. Insofern glaube ich auch, dass Schreiben schon etwas mit Eitelkeit und auch mit Verletzlichkeit zu tun hat.

Alex: Ich finde Schreiben, gerade über Tanz, so spannend, weil es natürlich eigentlich unmöglich ist. Weil man dem Tanz sowieso nie wirklich sprachlich nachkommen kann, weil da immer etwas Neues entsteht über so einen Text. Ich fange oft an mit ganz saloppen, lapidaren Gedanken, versuche, einen Schritt von mir selbst zurückzutreten und dann in ein Selbstgespräch zu kommen. Manchmal bin ich selbst überrascht, was da zum Vorschein kommt. Ich finde, Schreiben ist eine super Form, sich selbst beim Denken zu beobachten.

Deutsche Übersetzung der Beiträge von Sasha Amaya durch Bettina Homann