„Bleach“, Theater Thikwa & matanicola © David Baltzer

Jagd nach neuen Bühnendimensionen

Mit „Bleach: Aurora Hunters“ schaffen das Theater Thikwa und das Choreografen-Duo matanicola eine traumbildhaft-überirdische und zugleich erdenschwere Annäherung zwischen Tanz und Bildender Kunst.

Insgesamt vier Tanzabende hat das Theater Thikwa bislang mit Choreograf*innen und Tänzer*innen der Berliner und internationalen Szene entwickelt. Unter einem Motto, aber ohne feste Themenvorgabe treffen eingeladene Gäste dabei auf Thikwa-Performer*innen, um in einem gemeinsamen Austausch sogenannte Tanzskizzen zu entwickeln. In der Regel werden zwei dieser offen angelegten Stücke an einem Abend präsentiert. „Bleach“, eine Zusammenarbeit mit dem Choreografen-Duo mantanicola war erstmals 2015 beim „Tanzabend 2 – Überbelichtet“ zu sehen. Als abendfüllendes Stück mit Prozesscharakter feiert es aktuell am Thikwa unter dem Titel „Bleach: Aurora Hunters“ seine Premiere – eine Arbeit, die sich als spielerische Annäherung an den Spazialismo lesen lässt, jener 1946 durch Lucio Fontana begründeten und ein Gesamtkunstwerk aus Farbe, Klang, Bewegung und Raum anstrebenden italienischen Kunstrichtung.

Die puristisch weiße Bühnenrückwand ist von einem horizontalen Einschnitt durchzogen. Das wirkt so, als habe jemand ein „Concetto spaziale“ von Lucio Fontana in die Waagerechte gedreht. Der italienische Bildhauer und Maler suchte nach einer Möglichkeit, die Zweidimensionalität der Bildfläche zu überwinden. Das gelang ihm mit den sogenannten „Raumkonzepten“. Der simple Akt des gezielten Schnitts zielte darauf ab, den realen Raum in das Kunstwerk einzubeziehen. Durch den Eingriff in die Bildfläche etablierte Fontana eine Dialektik zwischen Materialität (Bildträger) und Immaterialität (Öffnung des Bildträgers in einen unkonkreten Raum, hin zu etwas Abwesendem). Besagte Dialektik findet in „Bleach: Aurora Hunters“ eine assoziative Übersetzung: Eine traumbildhaft-überirdische und illusionistische Körperlichkeit durchmischt sich hier mit einer ganz materiellen und erdenschwereren tänzerischen Physis.

Formschöpfung und Transzendenz

Eine Tür geht auf. Im nebeligen Halbdunkel erscheinen Matan Zamir und vier Thikwa-Künstler*innen. Das monochrome Szenenbild wird zur unendlichen Weite, zu einem unbestimmten Planeten in futuristischer Zukunft, durchdrungen von abstrahiertem archaischem Kriegsgeschrei. Mit Spielzeug-Laserschwertern haben die vier Jäger*innen der Morgenröte (alias vier Thikwa-Darsteller*innen) Zamir umzingelt. Der bedrohliche Fremdling verwandelt sich kurz darauf in eine Leitfigur. Die Jäger*innen folgen ihm und erklären ihn zum Mittelpunkt wechselnder choreo-geometrischer Formschöpfungen aus farbigem Licht. Eine der folgenden Szenen steigert die Figur des Eindringlings zum Heilsbringer in Jedi-Ritter-Mönchsgewand, sakrale Musik setzt ein. Aus den Laserschwertern wird ein Kreuz gelegt. Das nächste Bild zeigt Lia Massetti, die sich anmutig fröstelnd an der Bühnenrückwand bewegt, als wäre sie Teil eines Freskos. Zamir im Kapuzenumhang erinnert nun an den personifizierten Tod. Er lockt Massetti in die dritte Dimension der Bühne.

Materialität, Formverlust und Farbauftrag

Im zweiten Teil der Aufführung steht nicht Form, sondern Farbe im Fokus der Choreografie; Farbe als Sinnbild für die Lust am Materiellen. Die glatte, ästhetische Form des ersten Teils bekommt Risse.

Der Bühnenraum gleicht einem Museumsraum. Die Thikwa-Darsteller*innen entdecken darin Farben: ein Grün, ein Gelb, ein Orange auf weißen Leinwänden, die an den Seitenwänden hängen. Als lebendige Pinsel rollen sie sich à la Yves Klein an den Wänden entlang und über den Bühnenboden. Wenn die Performer*innen sich immer wieder zu plastischen Gruppenbildern zusammenschieben, markieren sie den Übergang vom Bildlichen hin zum Plastischen. Es entsteht eine tänzerische Formschönheit im Werden und Vergehen, die in vielerlei Hinsicht an das Bewegungsrepertoire der Choreografin Sasha Waltz erinnert – beide Tänzer des Duos matanicola tanzten bei Waltz. Eben dieser Liebe zur fließenden Form halten die Thikwa-Performer*innen zusammen mit Zamir den Spiegel vor. Was das Publikum in seiner fließend geschmeidigen Gestalt als etwas Leichtes annimmt, entpuppt sich als irdischer Akt tänzerischer Arbeit: Die Gruppe verheddert sich in einer aus Händen geknüpften Choreografie. Sie kichern, lachen und verlieren die Form. Es folgen kindlich verspielte Szenen, die im Gegensatz zur sakralen Ernsthaftigkeit der ersten Hälfte des Stücks stehen. Wie die Fabelwesen aus dem Märchen „Der Zauberer von Oz“ kommen die Thikwa-Darsteller*innen auf die Bühne und vollziehen eine Art Tanz-Theater-Zirkus, der voller Lebensfreude und Lebendigkeit steckt.

Verwirrend ist an diesem Abend, dass Matan Zamir immer wieder eine Hauptrolle zukommt. Gerade im ersten Teil der Aufführung, in dem die Assoziation zu einer Heilsbringer-Figur stark angetriggert wird, schleicht sich für mich eine Schräglage im Verhältnis von nicht-behinderten zu behinderten Künstler*innen ein. Glücklicherweise durchbricht Zamir diese Stereotype, indem er die erhabene Künstlerfassade fallen lässt und im zweiten Teil ganz menschlich und unperfekt, in tollpatschiger Zerstreutheit über die Bühne stolpert.

Fazit: Die spielerische Verknüpfung von Tanz und Bildender Kunst und das damit einhergehende Spiel um Immaterialität und Materialität, Abwesendes und Anwesendes macht das Stück auch für Schulklassen interessant. Sozial ambitionierte tänzerische Arbeit auf Augenhöhe, so ein weiterer Nachhall des Stücks, lässt sich allerdings nicht mal eben aus dem Hut zaubern, sondern ist eine Kunst für sich.