Choreographen-Labor DANCE RUPTION © Yan Revazov

Prinzipientreue, aber anders

Nacho Duato hat für das Staatsballett ein neues Nachwuchs-Choreografen-Programm gestartet

Auch und vor allem Ballett-Tänzer*innen sind Workaholics! Wer am neu aufgelegten “Choreographen-Labor Dance Ruptions” von Staatsballettdirektor Nacho Duato teilnehmen wollte, musste das in seiner Freizeit tun. Was machen die Frauen nur in ihrer Freizeit? Acht Männer und eine Frau haben sich gemeldet.

Vier Prinzipien, an die sich ein Großteil der Try-out Choreograf*innen hält:
Die Musik gibt den Takt vor
Pas-de-deux werden männlich-weiblich besetzt
Die Ästhetiken von Ballett und Clipdance sind gut kombinierbar
Kein Spitzentanz

Vor allem Letzteres erstaunt, hatten die Tänzer*innen sich aus Anlass des Protestes gegen die Intendanzübernahme von Sasha Waltz ab 2019 doch so sehr zur Klassik bekannt. Es scheint, dass mehr Spielraum drin ist als gedacht. Allerdings ist die den Tänzer*innen am naheliegendste Ästhetik nicht so sehr die des zeitgenössischen Tanzes als vielmehr die des Clipdance. Ports de bras, die übergehen in aneinandergereihte Posen, zackige Abfolgen von selbstdarstellerischen Bewegungsfolgen, perfekt in den Takt der Musik eingepasst, wechseln sich ab mit Pirouetten, Arabesquen und Hebefiguren. Zu einem hohen Grad an Perfektion hat dieses Prinzip Vladislav Marinov in “Tatischeff” zur Musik von Âme gebracht. Sein Tänzer Dominic Whitbrook kombiniert Stop-Motion- und Fitnessbewegungen mit virtuosen Ballettdrehungen und Sprüngen, mischt Männlichkeitskult mit weichen, eher einer homoerotischen Ästhetik entlehnten Posen und engwinklig variierten Armhaltungen. Ein Cyborg zwischen Affekt- und Techniksteuerung.

Sehr unterschiedlich sind die Dance-Ruption-Teilnehmenden im Bezug auf ihre choreografische Erfahrung aufgestellt. Manche, wie Marinov, fangen erst an, andere, wie Xenia Wiest, touren ihre Stücke weltweit. Die leichte Hand bei der Arbeit ist Wiests Choreografie “Distant Relatives” dann auch sofort anzusehen. Souverän lässt sie ihre drei Tänzer*innen comicfigurenartig in einem humoristischen Stück über die nächsten Verwandten der Menschen in der Reihe parieren, sich gegenseitig in “überflüssige” Bewegungen pressen oder zu gezupften Streichern einen präzisen gestischen Kreistanz vollführen. Unterhaltsam, genau phrasiert, pointiert und komisch ist das. Die pofreien schwarzen Felltrikots, die Melanie Jane Frost entworfen hat, unterstreichen den Charme des gut sitzenden Klamauks mit einer Prise Ernst.

Der Großteil der männlichen Choreografen neigt jedoch zu ernsten Skizzen und einem romantischen, vor allem Paarbeziehungen betreffenden Ansatz. Sogar wenn es, wie bei Olaf Kollmannsperger, in den Weltraum geht, bleibt diese Grundstimmung erhalten. Die Konstellation des Pas de deux, die immer wieder ins Partnering der Kontaktimprovisation umschlägt, nimmt außer bei Wiest und Marinov in jeder der Skizzen Raum ein. Die interessantesten Stimmungsfärbungen lassen sich hierzu bei Alexander Abdukarimov und Lucio Vidal finden. Während Abdukarimovs alter ego seinen Lebensentwurf in Gestalt eines nachtwandlerisch tanzenden Paares überwacht, an deren ausgestreckten Armen er einen Klimmzug in die Höhe macht und tief, aber weich zu Boden stürzt, sucht Vidal zusammen mit der*dem tanzbegabten Transsänger*in Mikey Woodbridge nach dem Gewicht, das jede oder jeder Einzelne für den oder die Andere hat, nach der Heimat im Gesang des oder der einen und im Tanz des oder der anderen.

“Somewhere” heißt die Choreografie von Vidal und das ist in etwa auch die Standortbestimmung für das Dance-Ruption-Projekt im Gesamten. Dass Nacho Duato nun an die bereits unter Vladimir Malakhov stattfindende Förderung der Künstler*innen-Persönlichkeiten seines Ensembles anknüpft, ist schön – dass er in so kleinen Schritten anfängt, ist ambitionslos. Denn auch wenn die Choreografien derzeit in der Try-out-Phase sind, hätten choreografische Grundlagen schon umfassender angelegt werden können. Mit mehr dramaturgischer Beratung, Feedback zur Floskel-Vermeidung und ästhetischer Horizontstimulierung hätten einige der Stücke den Weg aus der Konvention heraus vielleicht leichter gefunden (und die Einführung der stellvertretenden Intendantin Christiane Theobald wäre vielleicht etwas weniger pädagogisch ausgefallen). Es gilt einmal mehr abzuwarten.