Choreografien für nicht-menschliche Akteure von Mette Ingvartsen zeigt das HAU
Strukturierte Bewegung im Raum ist für die Choreografin Mette Ingvartsen kein dem menschlichen Körper vorbehaltenes Privileg oder Vermögen. Auf der Bühne bewegt sich bei ihr vieles mehr: das Licht, der Klang, Materialien und Objekte. Folglich hat die Dänin dem Tanz nicht-menschlicher Akteure eine Serie von Arbeiten gewidmet – und, im Anschluss an historische Vorbilder wie Loïe Fuller oder Oskar Schlemmer, ephemere Substanzen wie Nebel oder Seifenblasen und glitzernde Knisterware wie Silber-Konfetti und Rettungsdecken choreografiert. In einer Werkschau zeigt das Hebbel am Ufer mit den Bühnenformaten “evaporated landscapes” (2009) und “The Artificial Nature Project” (2012) sowie der performativen Lecture “Speculations” (2011) (die ich nicht gesehen habe) einen Rückblick auf diese Phase in Ingvartsens Schaffen, bevor sich die Choreografin ab Herbst an der Volksbühne ihrer “Red Series” und damit ihren Forschungen zu Sexualität und Pornografie widmet.
Nicht-menschliche Akteure? Was nach reinem Konzepttanz klingt ist in actu – wie ja auch so manches Stück von Jérôme Bel oder Xavier Le Roy, von denen die P.A.R.T.S.-Absolventin Ingvartsen beeinflusst ist – unmittelbar eingängig und durchaus unterhaltsam. In “evaporated landscapes” stehen beim Einlass fünf erbärmlich schiefe Schaumhäuflein auf dem Tanzboden im HAU3, zwischen je zwei einander gegenüberliegenden Sitzreihen. Auf die Verwandlung dieser Schäumchen in schneeige Berggipfel blicken wir dann hinab wie die Götter auf ihr Werk: Wolkenähnlicher Nebel strömt aus einem dicken Schlauch; choreografiert wird seine Ausbreitung von einem Techniker mittels Handpumpe. Das luftig-schleierhafte Weiß strudelt um die blau beleuchteten Schaumkuppen – und sofort zapft dieses Bild das assoziative Gedächtnis an, erinnert an Luftaufnahmen aus dem Himalaya oder die Strömungsskizzen von Leonardo da Vinci und gemahnt an den Naturschauder, den zu empfinden die Romantik gelehrt hat.
Das Künstliche wirkt wie das Echte
Windwehen aus den Lautsprechern verstärkt diese Assoziationen. Rotes
Licht und der Klang von Feuerknistern verwandeln im darauf folgenden
Bild einen apparativ erzeugten Seifenblasen-Sturm in Funkenflug.
Verblüffend ist, wie sehr die seifigen Reste zerplatzter Blasen auf dem
Tanzboden grauer Asche ähneln; die widersprüchlichen Qualitäten des
Feuchten und des Trockenen überlagern einander. “evaporated landscapes”
ist ein meditatives Lehrstück über Verwandlung und Ähnlichkeit, über
Dauer und Vergänglichkeit. Neben Schönheit erzeugt Ingvartsen in ihrer
halbstündigen Material-Performance auch Schrecken: Ob eine mit
derartigem technischem Aufwand generierte Natur en miniature (die
Scheinwerfer, Kabel, Schläuche, Maschinen künden in jedem Moment von
Künstlichkeit) schon in wenigen Generationen alles sein wird, was vom
Planeten Erde bleibt? Eine remixte Reminiszenz an reale Räume, ein
Empfindsamkeits-Effekt? Diese Deutung legt das futuristische Ende von
“evaporated landscapes” nahe, bei dem in tiefem Theaterschwarz erst ein
tieffrequentes Rattern und Brummen die Sitzbänke vibrieren lässt und
dann die Schaumhäuflein in ähnlich psychedelischen Farben aufleuchten
wie das All in Stanley Kubricks “2001”.
Silberflirrende Studie in Entropie
Derart atmosphärisch eingestimmt, erscheint “The Artificial Nature
Project” als Fortsetzung und Erweiterung von “evaporated landscapes” mit
einer anderen Schwerpunktsetzung: Nicht die erzeugten Naturbilder
stehen im Vordergrund sondern die Erzeugung selbst (wobei die
Apparaturen hier paradoxerweise weit unauffälliger wirken). Im HAU2
flirren eingangs grünliche Punkte in flächigem Schwarz, einem
monochromen 80er-Jahre-Computerterminal ähnelnd. Inhaltlich irreführend
ist dieser “Matrix”-Effekt (was wir als künstlich wahrnehmen, ist zwar
künstlich erzeugt, aber zugleich ‚echt‘, denn dieses Bild ist keine
Animation oder Projektion – es ist eine Beschneiungsanlage, die silberne
Partikel auf die Bühne regnen lässt), denn im Folgenden geht es weniger
um die Frage, was real oder artifiziell ist, sondern um eine Studie in
Entropie: Wird ein (in diesem Falle performatives) System nicht mehr mit
Energie gespeist, lösen sich seine Strukturen in Unordnung auf.
Ingvartsen demonstriert hier also, wie viel körperliche Anstrengung
nötig ist, um einen theatralen Schaueffekt zu erzeugen, frei nach Karl
Valentins Diktum, Kunst sei zwar schön, mache aber auch viel Arbeit.
Sieben Performer*innen in eng anliegender Funktionskleidung, mit Kapuze,
Mundschutz und Brille, wühlen – nach einer dramaturgisch nicht ganz
plausiblen Pause des versonnen-ziellosen Grabens im Silbertand – das
Konfetti zur Dauerbewegung auf, werfen, streuen und rieseln, schießen es
in Fontänen in die Luft oder lassen es in scharfer Entladung über den
Bühnenboden zischen. Ihre Bewegungen allerdings haben nur noch dienende
Funktion: die Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf das unablässige
Flittern und Flirren, die scheinbare Naturtätigkeit des mit menschlicher
Energie belebten Materials.
Wirkungsvolle Live-Installation
Ohne Energiezufuhr keine Bewegung: Nach einer (nicht gerade kurzen)
Weile verebbt dieses Geschehen. Die Performer*innen gehen ab und tragen
mit zugleich handwerklicher Gleichmut und martialischer Bedeutsamkeit
ein halbes Dutzend strombetriebener Laubbläser auf die Bühne. Ein neues
Kapitel beginnt. Drei auf einen Punkt linksmittig gerichtete Gebläse
lassen die Silberpartikel in einer geysirähnlichen Wolke tanzen – wie
Laub im Herbstwind oder Lava bei einem Vulkanausbruch. Nach und nach
werden Rettungsdecken in diese Live-Installation einbezogen und wie
Blattgold an die mit Molton verkleideten Seitenwände geblasen oder, zu
einem Knäuel zusammengetrieben, strudelnd über die Bühne gefegt wie ein
Schwarm Vögel im Aufwind oder im Sturm wirbelnde Plastiktüten.
Geschickte Kombination von Kontexten
Die skulpturale Wirkung dieses Materialtanzes ist momentweise
überwältigend, eine geschickte performative Verschränkung von Tanz und
Bildender Kunst. Clever auch der performative Anschluss an eine
wissenschaftliche Forschungsrichtung, die, nach einem Höhepunkt mit
Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie in den 80ern, in den letzten
Jahren wieder an Bedeutung gewonnen und als Objektinteresse in den Tanz
Einzug gehalten hat. So wie Mette Ingvartsen versiert verschiedene
Themenfelder und Kontexte navigiert (und das als eine der ersten in
diesen Bereichen getan hat), so landet auch das HAU
mit der Werkschau einen Scoop: Nicht nur, weil es die künftige
Volksbühnen-Künstlerin dort vorstellt, wo ihre Arbeiten seit 2004
regelmäßig zu sehen sind, und so ihrer Vereinnahmung durch eine
vermeintliche Neuentdeckung vorbeugt, sondern auch, weil mit der
“Artificial Nature Series”-Retrospektive ein Aspekt von Ingvartsens
Schaffen hervorgehoben wird, der an der Volksbühne erst einmal in den
Hintergrund treten wird. Das Resultat: Mette Ingvartsen wird
anschlussfähig gemacht für ihre eigenen Arbeiten – eine programmatisch
kluge Entscheidung.