„Zur Zartheit von Rissen“, Lea Martini & Bella Hager ©Diethild Meier

Poesie des Beiläufigen

Lea Martini und Bella Hager präsentieren mit „Zur Zartheit von Rissen“ vom 3. bis 5. Februar 2023 eine fein ausgearbeitete Mischung aus Wahrnehmungs-Expedition, Performance und Retreat, und eine leise Hommage an das Heizhaus der Uferstudios.

Ich muss zugeben, ich gehe manchmal gerne ins Theater, um alleine zu sein. Auch wenn das Theater dieser Ort der leiblichen Kopräsenz, der Interaktion, der Begegnung ist, mag ich doch am liebsten den Moment, in dem das Licht ausgeht, und ich in Ruhe sein kann, nicht reden und mich nicht verhalten muss. Diesmal wird es nicht so sein, es wird irgendetwas zwischen Alltag, Inszenierung, Begegnung und Entdeckung.

Um 15:58 Uhr soll sich das Publikum im Heizhaus der Uferstudios einfinden, genau eine Stunde vor Sonnenuntergang. Alle Besucher*innen werden einzeln und freundlich begrüßt, eine Person gibt mir einen Fragebogen, den ich für mich durchgehen soll. Meine Antworten entscheiden, bei welcher der sechs Touren ich mitmachen werde: Welches Genre ich bevorzuge (Nachrichten, Fiktion, historische Berichte oder Poesie), ob ich lieber Wörter oder Töne mag, in welcher Stimmung ich mich gerade befinde (eher neugierig, eher erschöpft), ob ich Schwierigkeiten habe, im Mittelpunkt zu stehen. Mein Ergebnis lautet: Audio-Tour. Gemeinsam mit fünf anderen Menschen werde ich nach draußen geleitet, wir bekommen Kopfhörer und werden mit Hilfe der Audio-Spur durch das Heizhaus geführt. 

Das Heizhaus ist durchzogen von Spuren und Erinnerungen. Wir erfahren etwas über die Geschichte des Ortes als zentralem Wärmespender der Uferstudios mit eigenem Ökosystem, über die Öfen und Dampfkesseltürme, die Heizrohre und die Kupferorgel. 

Was ist da? lautet die Ausgangsfrage unserer Tour, in der immer wieder die Aufmerksamkeit auf das scheinbar Nebensächliche, auf das Unspektakuläre gelenkt wird. So werden wir dazu eingeladen, die Patina der Wände, einzelne Wandlöcher, Heizungsrohre, die riesigen Fenster, einen alten Schrank mit vielen Schaltern auf dem „Wärmeübergabestation“ intensiv zu betrachten. Es erfordert ein bisschen Offenheit und Muße für diese Art der Exploration, sich dem Alltäglichen so genau hinzugeben, und führt automatisch zu weiteren Fragen: Wie gehen wir eigentlich durch diese Welt, und was heißt es, sich wirklich den uns umgebenden Dingen mal richtig zu widmen? Ich lege meine Hand auf die unebene, von Rissen und Löchern durchzogene Wand, der Putz halb abgebröckelt. Sie fühlt sich überraschend gut an, rau, warm und fest.

Um uns herum bewegen sich auch die Menschen der fünf anderen Touren, einige sind mit Seilen aneinander festgeknotet und erkunden zu zweit den Raum, andere liegen auf einem Brett mit Rollen und werden mit Blick an die Decke horizontal durch den Raum geschoben. Zwei Leute liegen die ganze Zeit in der Mitte des Raums auf einem Podest auf riesigen Kissen und beobachten das Treiben um sie herum. Wenn ich zu Beginn anders geantwortet hätte, könnte ich jetzt auf den Kissen dort liegen und den Blick schweifen lassen, denke ich.

Die Audio-Spur endet und wir sind uns selbst überlassen. Es passiert nun auch länger mal nichts Bestimmtes, ein paar Menschen laufen mit Stirnlampen umher, einige sitzen auf dem Boden, rote, gelbe und blaue Lichtquellen ziehen Linien durch den Raum, plätschernde Wassergeräusche sind zu hören. Gerade als ich mich frage, inwiefern diese Situation eigentlich noch eine theatrale Verabredung ist, beginnt Lea Martini zu singen, erst leise dann etwas lauter, der Rest des Teams stimmt nach und nach ein, ein Gesang aus dem Off mischt sich dazu – eine Melodie wie aus einem Kinderlied entsprungen:

Ein Fenster, zwei Fenster

drei Fenster, vier Fenster 

und mehr Fenster

drumherum Geländer 

und Rohre 

und Streben.

Es ist erstaunlich, wie unbekümmert, spielerisch und behutsam das künstlerische Team (Bella Hager, Lea Martini, Marta Forsberg, Gilda Coustier, Francisca Saez Agurto) jetzt dieses Lied über unsere offensichtlich direkte Umgebung singt: Fenster, Geländer, Rohre, Streben. Coolness muss hier niemand beweisen. Überhaupt fällt mir auf, wie freundlich und umsichtig das Team hier agiert, bedacht darauf, einen geschützten Rahmen für die individuellen Entdeckungen der Besucher*innen zu schaffen.

Meine Lieblingsentdeckung: Drei kleine runde Löcher an der Ritze zwischen Boden und Außenwand aus denen Licht und Dampf herausströmt. Ich lehne mich an die Wand, senke den Kopf in Richtung Boden und atme den Dampf ein: Kellergeruch. Ich bleibe hier länger sitzen und schweife ab in Richtung Kindheit, Schornsteine, Herbst, Nostalgie.

Zum Schluss setzt sich Lea Martini noch einen Bauhelm auf und steigt in eine Art fahrbare Leiter, ein ausfahrbarer Personenlift mit dem sie bis ganz nach oben fährt. Es sieht unvermittelt lustig aus, wie sie dort ihren Arm ausstreckt und mit einem meterlangen Stab mit großen Federn einen Fleck an der Wand streichelt. Wir stehen unten und schauen zu ihr herauf, wie sie sich da oben kümmert, um die Wand, an der uns allen jetzt doch auch irgendwie etwas liegt.

Ich verlasse das Gelände mit einer Sympathie für das Heizhaus, und vielleicht auch mit einem leisen Gefühl für die Poesie, die in den uns unmittelbar umgebenen Dingen liegt, ohne dass wir es merken.


„Zur Zartheit von Rissen“ von Lea Martini und Bella Hager ist vom 3. bis 5. Februar 2023 im Heizhaus in den Uferstudios zu erleben.

Die Veranstaltung beginnt am 4.2. um 16.00 Uhr und am 5.2. um 16.02 Uhr – jeweils exakt eine Stunde vor Sonnenuntergang. Der Eintritt ist frei. Bitte beachten: Nur mit verbindlicher Voranmeldung für die Vorstellungen, da die Platzkapazitäten begrenzt sind.