„Sick Dreams“, Zinzi Buchanan ©Johanna Baschke

Die erholsamen Träume der Kranken

In der Berlin-Premiere von Zinzi Buchanans „Sick Dreams“, das am 29. Januar 2023 zweimal im Heizhaus in den Uferstudios gezeigt wurde, erlebt das Publikum für 90 Minuten die Utopie einer Gesellschaft, die nach den Bedürfnissen der Kranken strukturiert ist, die sie produziert.

Ich bin ein bisschen spät dran zu „Sick Dreams“, und als ich die Tür zum Heizhaus in den Uferstudios öffne, bin ich erstmal überwältigt: Vor mir eröffnet sich eine psychedelische Landschaft aus scheinbar unzähligen Betten, bunten Decken und Sitzsäcken (Bühnenbild: Ivanka Tramp), sich bewegenden Lichtmustern, hängenden und stehenden Skulpturen und nicht zuletzt liegenden, sitzenden und einigen sich bewegenden Körpern, die größtenteils kaum von all den Objekten zu unterscheiden sind. Doch bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, wie die Schwelle zu diesem Paralleluniversum angemessen übertreten werden könnte, werde ich bereits in Empfang genommen und sicher durch das Labyrinth all der szenografischen Details zu meiner eigenen Liegestädte geführt. „You can leave everything underneath the bed“, wispert meine Betreuerin, während sie mir Lavendel in die Hände sprüht und die Justin Bieber-Bettdecke zurückschlägt. Es braucht einige Momente, bis sich mir die Dimension dieser Einladung erschließt: Ich darf nun für 90 Minuten wortwörtlich zu Bett gehen. Ich kann mich nicht erinnern, wann sich Zuschauer*insein jemals so heimelig angefühlt hat.

„Sick Dreams“ ist eine Art aktivistische angeleitete Meditation durch die verschiedenen Facetten von (chronischer) Krankheit, Schlaf und Erholung. Eine Partitur sich abwechselnder Stimmen, die sich unterschiedlichster Kompositionsweisen bedienen, führt durch eine Fülle von Motiven (Künstlerische Mitarbeit: Clay AD, Paca Faraus, Martina Hefter, Peter Scherrebeck Hansen, Xenia Taniko, Zinzi Buchanan & Fayer Koch): Es kommen historische Abhandlungen vor, beispielsweise über die sogenannten Schlafgänger*innen zu Beginn der Industrialisierung, die für etwas Geld tagsüber ein Bett mieteten, da der Verdienst für eine eigene Wohnung zu knapp war; ein Karaoke-Duo singt Alicia Keys im Krankenbett; Fragmente eines Gedichts mit dem Titel „the body is a time machine“ halten die Aufführung fugenartig zusammen; Tagebucheinträge aus dem Alltag von Pflege sowie körperlicher und psychischer Krankheit wechseln sich gegenseitig ab; in kurzen diskursiven Passagen werden Auszüge aus Essays von Johanna Hedva, Audre Lorde und Octavia E. Butler verlesen; und immer wieder mischen sich elektronische Klänge (Musik: NYX) und die Bewegungen einiger Tänzer*innen (Tanz: Zinzi Buchanan, Camila Malenchini, Fjóla Gautadóttir) in das Panorama aus Stimmen und Betten. Manche Geschichten sinken tief in mich hinein, andere rauschen leise an mir vorbei, und einige entfalten sich vollkommen jenseits meiner Wahrnehmung, da ich zwischendurch immer wieder in meinen eigenen Narrativen versinke.

„Sick Dreams“ ist wie ein Trip, bei dem beständig die Grenzen zwischen Wachen und Träumen zerfransen. Beinahe alle Elemente des Stücks tragen zu dieser Porosität bei: zuallererst natürlich das Liegen unter der Bettdecke, aber auch die sich beständig wandelnde Lichtinstallation, die synthetischen Drone-Chöre, die neonfarbenen, überall im Raum verteilten surrealen Skulpturen, und die weißen Umhänge der Performer*innen, die bei jeder Bewegung leise rascheln und sie ein wenig wie die Schutzengel der Bettenlandschaft wirken lassen (Kostüme: Rike Zöllner). Die Aufführung scheint das Mäandern zwischen verschiedenen Bewusstseins- und Aufmerksamkeitszuständen nicht bloß zu erlauben, sondern sogar dazu einzuladen. Überhaupt wird den Zuschauenden sehr viel Freiraum gelassen, selbst darüber zu bestimmen, wie man die Performance erleben möchte. Dennoch steht dabei nicht die Bürde der eigenen Verantwortung im Vordergrund. „Sick Dreams“ ist eine sehr respektvolle Arbeit, die nie bedrängt, und dabei trotzdem immer dem Publikum zugewandt bleibt — eine Geste, die man selten bei Theaterstücken erlebt.

Ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Aufführung zieht, ist Schlaf: Es taucht diskursiv, historisch und anekdotisch auf, und ist gleichzeitig omnipräsent, da (fast) das ganze Publikum im Bett liegt — wodurch „Sick Dreams“ unausweichlich zur Auseinandersetzung mit dem Einschlafen wird. In einem Beitrag geht es um Schlaf als Ressource, die nicht für alle gleichermaßen verfügbar ist: „Sleep is a healing power unequally distributed.“ Wenig später führen zwei Stimmen einen Dialog über ihre Beziehung zum Bett: „Is your bed your friend?“ — „Yes, I love my bed!“ Trotz meiner eigentlich sehr ambivalenten Beziehung zu Schlaf & Betten bin ich mit diesem Liebesbekenntnis durch meine wohlige Immersion in den kollektiven Schlafkörper sehr einverstanden, und gebe mich Fantasien von „napping palaces“ hin, permanenten Orten der gemeinsamen Erholung und des Schlafes in einer Gesellschaft, die das kapitalistische Produktivitätsparadigma zugunsten kollektiven Behagens abgeschafft hat. „Sick Dreams“ schafft einen Raum, in dem sich wie selbstverständlich offenbart, dass auch das Private ein Ort des Protests sein kann.

Zum Schluss, als der Applaus verklungen und die Performance bereits beendet ist, machen alle noch ihr Bett, bevor sie nach Hause gehen. Es sind berührende Szenen der Fürsorge und Intimität, in denen sich private Gewohnheiten, subtile Dankbarkeitsbekundungen und schüchterne Rituale des Aufwachens offenbaren. „Doch das Wesentliche an dem Traum besteht nicht so sehr in dem, was er aus der Vergangenheit heraufbeschwört, sondern in dem, was er für die Zukunft verkündet“, heißt es irgendwo bei Foucault — und vielleicht weisen ja auch Zinzi Buchanans „Sick Dreams“ auf eine andere, fürsorglichere Zukunft hin, in der zum Wohle aller nicht mehr die ‚Gesunden‘, sondern die sickos den Takt vorgeben.


„Sick Dreams“ von Zinzi Buchanan war am 28. und 29. Januar 2023 im Heizhaus in den Uferstudios zu sehen.