„Jérôme Bel / Ruth Rosenfeld“, Jérôme Bel ©Jérôme Bel

Zur Verringerung des diskursiven Fußabdrucks

In seinem choreografischen Selbstportrait „Jérôme Bel / Ruth Rosenfeld“, das am 23. Januar 2023 im HAU2 zu sehen war, vollzieht der etablierte Choreograf eine ausführliche und etwas unbefriedigende Revision seines bisherigen Werdegangs.

Die Erwartungen hängen hoch: Eine „‚auto-bio-choreo-grafische‘ Performance, die bis zu seinen Anfängen zurückreicht und Zweifel, Engagement, Misserfolge und Leidenschaften offen darlegt“, so wird Jérôme Bels nach ihm selbst benannte Solo-Lecture Performance im Abendzettel angekündigt. Teil des Konzepts der Arbeit ist eine an jedem Aufführungsort wechselnde Besetzung. In Berlin wird der Choreograf von der Schaubühnen-Schauspielerin Ruth Rosenfeld vertreten, deren Name irreführenderweise auch im Titel des Stücks auftaucht — irreführend deswegen, weil sie der Aufführung lediglich als geschichts- und identitätsloser Avatar ihren Körper, ihre Stimme und ihre Bewegungen leiht. Damit verweist der Titel aber bereits auf eine Tendenz, die sich in den neueren Arbeiten des Megastars des Konzepttanz’ immer mehr zugespitzt hat: das konsequente Desinteresse für die Unzulänglichkeiten der Repräsentation.

„Mein Name ist Jérôme Bel“, richtet sich Rosenfeld zu Beginn der Performance an das Publikum, und erzählt in den folgenden knapp zwei Stunden auf die für den Choreografen übliche kurzweilig-unterhaltsame Art seinen Werdegang nach. Dabei sitzt sie die meiste Zeit am Bühnenrand vor zwei Laptops, von denen sie den Text vorliest und das Archivmaterial aus fast 30 Jahren künstlerischen Schaffens abspielt, das auf einer großen Leinwand zu sehen ist. Nur wenige Male verlässt sie ihren Platz — einmal, um im Stil einer PowerPoint-Präsentation die Gegenstände in einem Video zu beschreiben, ein anderes Mal, um mit großer schauspielerischer Übertreibung die Bewegungen und Worte einer Tänzerin nachzuahmen. Beides wirkt wie ein Verfremdungseffekt, dessen Aufhebung der Choreograf in einem späteren Moment der Aufführung eigentlich für sich in Anspruch nimmt — zwei von vielen, nachhaltig wirkenden Irritationsmomenten.

„Jérôme Bel / Ruth Rosenfeld“ enthält alle wichtigen Komponenten eines klassischen Künstlerheldenepos: Es beginnt mit Bels Hinwendung zum Tanz aus Rache am bürgerlichen Leben der Eltern, führt durch die eine Kunsterfahrung hindurch (Pina Bauschs „Nelken“), nach der nichts mehr ist wie zuvor, gefolgt vom obligatorischen mehrjährigen Rückzug ins Archiv zur Vorbereitung des künstlerischen Schaffens. Die ersten Stücke „Nom donné par l’auteur“ (1994), „Jérôme Bel“ (1995) und „Shirtologie“ (1997) erregen Unverständnis, Skandale und Verrisse, weswegen der Choreograf seine Laufbahn nach nur wenigen Jahren zugunsten einer romantischen Liebe zu beenden erwägt. Das unvermeidliche Scheitern der Liebe führt zum Ausstieg aus dem Ausstieg und dem Beginn einer Psychoanalyse, die das bisherige Œuvre in neuem Licht erscheinen lässt und fortan auch der verdrängten Emotionalität einen Platz in Bels Choreografien gewährt. Wieder einige Jahre später entschließt er sich, auch seinen Widerstand gegen das Spektakel zu überwinden, woraufhin ihm mit „Disabled Theater“ (2012) prompt ein Überraschungserfolg gelingt. Und schließlich kreiert er „Gala“ (2015), einen globalen Hit, und gleichzeitig die erste Arbeit, die vom Publikum überall auf der Welt verstanden wird.

So mitreißend die narrative Reise durch Bels Laufbahn trotz einiger erwartbarer Wendungen ist, so offensichtlich erzählt sie auch über die kontroversen oder ambivalenten Etappen der Karriere des Choreografen hinweg. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Bel sich ausführlich der ablehnenden Rezeption seiner frühen Stücke widmet, welche allerdings längst fest im Kanon der Tanzwissenschaften verankert sind. Kein Wort wird hingegen über die Kritik an „Disabled Theater“ verloren, die insbesondere aus den Reihen behinderter Theatermacher*innen kam. Die emphatische Beschreibung von „Gala“ als ein utopischer Versuch größtmöglicher Diversität wirkt 2023 eher wie ein gut gemeinter, aber schlecht gemachter #allbodiesmatter-Werbefilm oder eine Karikatur von entgleisten Identitätspolitik-Diskursen, wenn voller Stolz die zahlreichen Marginalisierungen der Besetzung durchdekliniert werden. Und auch die ungebrochene Verehrung irritiert, die Bel der Pionierin der Tanzmoderne „Isadora Duncan“ (2019) in einem seiner jüngsten Portraits entgegenbringt, sind doch die eugenischen und rassistischen Tendenzen ihrer Reformversuche in ihren Schriften unverkennbar.

Noch mehr als mit seinen Stücken, macht der Choreograf in den letzten Jahren allerdings durch seine radikale Entscheidung von sich reden, aus ökologischen Gründen im Rahmen seiner künstlerischen Tätigkeit nicht mehr per Flugzeug zu reisen. „Jérôme Bel / Ruth Rosenfeld“ erzählt nicht nur von den grundlegenden Auswirkungen auf den Arbeitsprozess, sondern ist mit seiner lokal wechselnden Besetzung bereits konkretes Resultat dieser Entscheidung. Bel sieht diese neue Produktionsweise allerdings nicht nur für seine eigene Kompanie, sondern für die gesamte internationale freie Tanzszene vor. Dass sich einer der etabliertesten Choreografen der Welt mit Sitz im Zentrum der Institutionen und Fördergelder in den letzten Jahren seiner Karriere quasi für ein Mobilitätsverbot ausspricht, sorgte verständlicherweise gerade bei nicht-europäischen Künstler*innen für viel Kritik — auch dazu natürlich kein Wort in der Performance. So bleibt am Ende der vielleicht auch wenig überraschende Eindruck, dass „Jérôme Bel / Ruth Rosenfeld“ durchaus interessante Einblicke eröffnet, die allerdings mehr der Unterhaltung als einer kritischen Selbstreflexion des Œuvres des Choreografen dienen.


„Jérôme Bel / Ruth Rosenfeld“ von Jérôme Bel (Performance: Ruth Rosenfeld) wurde am 23. Januar 2023 im HAU2 aufgeführt.