safe&sound, Lee Méir ©André Lewski

Ordnung und Chaos

Vom 27. bis 30. April 2023 fand nach einer digitalen Version im Jahr 2021 die Live-Premiere von „safe&sound“ der Choreografin Lee Méir im Radialsystem statt. Das Stück setzt sich mit linearen und zyklischen Zeitformen und mit Rhythmus als ein soziales und politisches Instrument auseinander.

Eine mit unendlich vielen bunten Kleidungsstücken übersäte Mondlandschaft erscheint beim Betreten der großen Halle des Radialsystem. Sechs Performer*innen (Cajsa Godée, Dessa Ganda, Eli Cohen, emeke ene, Cary Shiu und Willie Stark) bewegen sich in dieser hügeligen bunten Welt, alle für sich und in sich versunken, rastlos, und sichtlich beschäftigt mit etwas, dass nicht ersichtlich ist. Sie wanken weich und wie in Trance über die Bühne, manche wirken glückselig, andere manisch oder verspielt. Immer wieder ziehen sie sich mit einer Art außer Kontrolle geratenen Multilayering-Technik verschiedene Kleidungsstücke an und aus – mit nur einem Schuh oder einem Hosenbein, mit zu Oberteilen umfunktionierten Röcken oder temporär gebundenen Stoffgebilden auf dem Kopf wimmeln sie durch die Gegend, als wandelnde Textil-Wesen, als exzentrisch überladene Stofftiere.

Die Stimmen der Performer*innen werden zum Material und zum Irritationsmoment, der sich zugleich jeglicher Art von Repräsentation entzieht: Wispern, Stöhnen, Hauchen, Knacken, Ploppen, Schmatzen, Flüstern. Erste Rhythmen entspinnen sich über aus den Mündern der Performer*innen stammende Laute und synchronisieren sich manchmal mit Schritten, Kopf- und Armbewegungen. Zwischendurch entstehen wie zufällig arrangierte kleine Formationen, zwei oder drei Performer*innen, die zusammenkommen und in gemeinsamem Rhythmus Laute von sich geben und dazu trippeln, hüpfen, schreiten. Es wird laut und schnell, Kleidungsstücke und Gegenstände fliegen durch die Luft, Eli Cohen haut mit bunten Gummistangen um sich, Dessa Ganda wirft Bälle, Caijsa Godée ihren Turnschuh in die Luft, tierische Rufe gellen durch den Raum, es wird gesprungen und gestampft. Momente der Anarchie. Ein Kleiderhaufen in der Mitte des Raums wird von den Performer*innen umkreist, betanzt und besungen, ein gemeinsamer Rhythmus flammt auf, erinnert an ekstatische Tänze und an vergessene Hymnen und Rituale.

Rhythmus wird hier von den Performer*innen als ein soziales Werkzeug untersucht. Jede*r sucht einen eigenen Rhythmus, und manchmal verschmelzen die Rhythmen der Einzelnen wie zufällig. Wie gelingt eigentlich eine kollektive Entscheidungsfindung zum gemeinsamen Rhythmus und wie bestimmt der Wunsch nach Freiheit gegenüber dem Wunsch nach Zugehörigkeit das individuelle Handeln? Jede Aktion der Performer*innen bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Führen und Folgen, Chaos und Ordnung, Zufall und Kontrolle. Viele kleine Rhythmus-Blasen bilden sich hier und dort, hervorgerufen durch Atmung, Laute, Bewegung, doch sobald einmal erkennbar etabliert, platzt jede Blase schnell. Jedes Mal, wenn das Publikum sich einem Groove hingeben will oder kann, ist dieser sogleich verschwunden. Der Wunsch nach Synchronität, nach vertrauter Kinetik macht es nicht einfach, diese Performance zu schauen, weil sie sich immer wieder einem klaren Rhythmus entzieht. Dabei schrammt der Abend auch ein paar Mal kurz am Eindruck des Willkürlichen entlang – dass der Sound ausschließlich von den Performer*innen und deren momentaner Entscheidung hervorgerufen wird und es sonst keinerlei Musik zu hören gibt, ist hierbei nur konsequent.

Es wird ruhiger auf der Spielwiese. Leise und ausdauernde Rhythmik-Experimente folgen, mit Gummistangen, klackernden Schuhen und Hi-hats, zwischendurch Stille, die Zeit fließt langsam. Zum Ende kreieren die Performer*innen jedoch erneut Momente der Attraktion, immer befeuert von einer charmanten Absurdität jeglicher Handlungen: Umherrennen, unwiderstehlich ins Publikum grinsen, gurgelnde Kreischlaute von sich geben, wieder und wieder zur Arie ansetzen. Cary Shiu springt Grands Jetés im Kreis, emeke ene stampft empört mit dem Stiefel auf den Boden und führt noch schnell einen Stepptanz auf, Dessa Ganda, Cajsa Godée und Willie Stark geben undeutbare Laute von sich, die sich zu einer Art kapriziösem Operngesang entwickeln. Alle hüpfen schlussendlich gemeinsam im geordneten Chaos und im Pferdegalopp mit Gesang und Geschrei über die Bühne. Hallo Rhythmus, hallo Anarchie. Ich ertappe mich dabei, wie ein leises Lächeln meine Mundwinkel umspielt.


„safe&sound“ von Lee Méir wird vom 27. bis 30. April 2023 im Radialsystem aufgeführt. Weitere Informationen und Tickets unter radialsystem.de.