„Transatlantica“, Caroline Alves ©Sebastian Runge

Spiegelungen der Auslassungen

Die Tänzerin und Choreografin Caroline Alves, auch bekannt als Mitglied der Tanzkompanie Grupo Oito, zeigt im English Theatre Berlin vom 4. bis 6. Mai 2023 das Stück „Transatlantica“: ein autobiografisches Tanzsolo, in dem sie über die Geschichte ihrer Ururgroßmutter die Lücken kolonialer Geschichtsschreibung abtastet.

Kein anderes Element hat eine solche Schlagseite zur romantischen Vereinnahmung wie Wasser: Es gilt Element des Lebens und als Bindeglied zwischen allen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen. Wasser und seine vielen materiellen, mythischen, chemischen und poetischen Zustände sind auch der ästhetische Ausgangspunkt in Caroline Alves’ Performance „Transatlantica“. Alves’ gesprochene, getanzte und somatische Chroniken führen durch Videoaufnahmen von Füßen und Händen am Strand, eine ausufernde Aufzählung von Wasser-Attributen, zur unendlichen Attribuierbarkeit von Wasser, und Momente, in denen sie selbst wie eine hin- und herwogende Welle von einer Seite der Bühne auf die andere rollt. Und nicht zuletzt ist sie dabei umgeben von buchstäblichem Wasser — gefrorenem Wasser in Form eines rechteckigen, glasklaren, etwa ein Meter langen Eisblocks, und flüssigem Wasser, das von einem Aquarium in eine ähnliche Form gebracht wird (Bühne: Daniela Bevervanso). Dabei erzählt sie allerdings eine sehr viel ambivalentere, gewissermaßen kolonial gefärbte Geschichte des Wassers, als es der Alltagssprachgebrauch nahelegt: Wasser, in dem unzählige deportierte Afrikaner*innen während der Überfahrten des transatlantischen Sklavenhandels ihren Tod fanden. Wasser, das auch die europäischen Eroberer brachte, welche die indigenen Bevölkerungen beinahe vollkommen vernichteten.

In der Solo-Performance geht Alves den Spuren ihrer brasilianischen Ururgroßmutter Senhorinha (deutsch: Fräulein) nach, einer indigenen Sklavin. Wie kann man jemanden lebendig werden lassen, von der noch nicht einmal der eigene Name, sondern lediglich die Anrufung der Kolonialherren überliefert ist? Wo beginnt man zu suchen, wenn scheinbar nichts dokumentiert ist? „Transatlantica“ erkundet physische, verwandtschaftliche, räumliche und kulturelle Leerstellen, die sich durch gewaltvoll gekappte Verbindungen aufgetan haben. Diese Suche führt Alves etwa zu ihrem Körper, in dem sie ihre Vorfahrin wiederfindet: Sie taucht in traumatisch-wirkenden Zuckungen auf, die sich dann langsam über die anstrengende Wiederaneignung verbotener Bewegungen in selbstbewusste Tänze verwandeln — und tanzt die Ururgroßmutter vielleicht sogar in den großen Schatten mit, die Alves’ Bewegungen an die Wand werfen? Auf die Hinterseite der Bühne wiederum werden gelegentlich Filmaufnahmen projiziert (Video: Tito Casal). Darin sieht man die Gliedmaßen einer nicht zu identifizierenden Person, wie sie knöcheltief in heranrauschenden Wellen steht, mit ihrer bloßen Hand Löcher in den Boden gräbt oder Muster in den Sand zeichnet. Womöglich bezeugt das Publikum den Versuch einer Überbrückung zweier weit entfernter Welten? Gegen Ende scheint dieser sogar zu gelingen, wenn sich die spiralförmigen Spuren auf der Bühne, die Alves mit ihrem nassen Hemd auf den Tanzboden zeichnet, mit denen im irgendwo weit entfernten Sand synchronisieren.

„Transatlantica“ entwickelt sich entlang eines Eisblocks, dem spektakulären, manifesten und zugleich vergänglichen Gegenpart zu all dem Flüchtigen und Subtilen, das die Aufführung einzufangen versucht (Dramaturgie: Nora Tormann). Anfangs scheint er noch fest im hinteren linken Teil der Bühne verankert zu sein, wenn sich Alves an ihn schmiegt oder auf ihn legt — dabei entsteht durch seine vollkommene Transparenz ein wenig der Eindruck, als schwebe sie in der Luft. Vielleicht ein eindrucksvolles Bild für die Wirkmächtigkeit der Lücken kolonialer Geschichtsschreibung, die sich trotz ihrer Unsichtbarkeit überall materiell niederschlagen? Etwa in der Mitte des Stücks versetzt sie den Eisblock unter offensichtlichen Mühen langsam in Bewegung. Durch die Wasserspur, die er bei seinem Bahnenziehen über die Bühne hinterlässt, weckt er Assoziationen an ein die See durchquerendes Schiff. Wieder etwas später versetzt sie ihn in Rotation, und stellt dadurch eine Verbindung zu ihrem eigenen Körper auf der Bühne und dem auf der Leinwand her: beide verfallen im Verlauf der Aufführung auch immer wieder in ein Kreiseln. Voll genüsslicher Wut zerhackt Alves schließlich den Eisblock mit einem Hammer und einem riesigen Nagel in einem kathartischen Finale. Was bleibt, ist ein Schlachtfeld aus Eis, das sich wie eine Landkarte des Unvermessenen auf der Leinwand spiegelt.


„Transatlantica“ von Caroline Alves ist vom 4. bis 6. Mai 2023 um 20 Uhr im English Theatre Berlin zu sehen. Tickets unter etberlin.de.