„Hypothetic Bodies“, Simone Gisela Weber und Julia Keren Turbahn ©Sebastian Wolf

Ohne Zweifel

Mit „Hypothetic Bodies“ legen Simone Gisela Weber und Julia Keren Turbahn eine beeindruckende Arbeit vor. Aufgrund der pandemischen Situation entstand in Zusammenarbeit mit der Filmemacherin Svenja Simone Schulte eine aufwendig produzierte Filmversion des Bühnenstücks, die noch bis zum 26. September 2021 als Video on Demand zu sehen ist.

Wir hoffen wahrscheinlich alle, nicht wieder vor den Computer verbannt zu sein, um Kunst sehen zu können, denn die offenen Theater und Begegnungsräume sind für Künstler*innen wie Publikum ungemein wichtig. Doch ein kurzer Abstecher in die digitale Sphäre lohnt sich im Falle von „Hypothetic Bodies“ aus vielerlei Gründen. Die hochwertige ästhetische Umsetzung des Stücks für die Online-Premiere am 18. September 2021 macht in nur 15 Minuten Länge eine besondere Qualität künstlerischer Arbeit deutlich. Neun der insgesamt elf beteiligten Personen sind dabei weibliche Künstlerinnen und gerade in den Bereichen Kamera, Schnitt und Technische Leitung finde ich wichtig, das zu betonen. Der Kurzfilm selbst ist die meiste Zeit in zwei Bildhälften aufgeteilt und mit diesem sogenannten Split Screen entsteht eine spannende Ebene der Bildregie, wie sie live nicht möglich gewesen wäre.

Begleitet von den stimmungsvollen Geräuschtexturen der Sounddesignerin Nikola Pieper sehen wir eine Soloperformance von Simone Gisela Weber. Der Raum, in dem sie sich befinden, bleibt über die Dauer des Videos eher unbestimmt, denn der Fokus liegt auf den darin angesammelten Objekten. Zu Beginn lehnt die Performerin schräg an den weißen Fliesen einer Wand und rutscht in einer Art Zeitlupe auf den Boden. Die Arbeit möchte bewusst die Entschleunigung von sonst hyperaktiven und effektiv handelnden Körpern sowie einen Zustand der Kontemplation nutzen, um unseren modernen Zeitgeist kritisch zu hinterfragen, wie wir im Ankündigungstext lesen können. Mit Bedacht, aber offensichtlich ohne Zögern, bewegt sich Simone Gisela Weber tatsächlich durch die gesamte Performance. Wir sehen aufgrund der Detailaufnahmen jedoch meist nur Teile ihres Körpers. Mal wird das Bild ihres weggedrehten Oberkörpers neben einer Nahaufnahme der schwarzen Turnschuhe auf dem blauen Teppich gezeigt. Ein anderes Mal der Ausschnitt ihrer sich pulsierend vor und zurück bewegenden Hüfte sowie den herabhängenden Händen neben dem Bild der Hände der Musikerin am Laptop.

Das bildstarke Zusammenspiel der verschiedenen Szenen bringt neben den visuellen Narrativen auch Fragen der Zeitlichkeit ins Stück ein und beantwortet diese mit einer stimmigen Dramaturgie und Entwicklung. Denn die beiden nebeneinanderstehenden Bilder sind bewusst nicht ständig synchronisiert, aber zeigen, vor allem zu Beginn, eine deutliche Bezugnahme zueinander und können so später auch für zeitliche Sprünge oder eine Art Schnellvorlauf genutzt werden. Gemeinsam mit der eindrucksvollen Präsenz, die von Simone Gisela Weber als Performerin ausgeht, schafft das Stück eine erwartungsvolle Spannung aufzubauen, die einen fasziniert in den Bann zieht. An der Grenze zum Bedrohlichen ist diese Anspannung erst gegen Ende, wenn sie sich mit Ziegelsteinen in der Hand, scheinbar bewaffnet, durch den Raum bewegt. Doch zunächst ist die Stimmung des Stücks vor allem von bewusster Langsamkeit und Raum für das Mögliche geprägt. Möglich ist es zum Beispiel, rote Backsteine an einfache Bänder zu knoten, wie wir sehen. Die fokussierte Handlung der Performerin lässt dabei keine Sekunde danach fragen, warum das gerade passiert oder was das werden soll – vielleicht noch kurz, ob das schwarze Band den Stein wirklich mit nur einer Schlinge halten wird – aber die innere Notwendigkeit dieser Taten, die Simone Gisela Weber verkörpert, ist überzeugend und lässt uns einfach in dem Moment sein, anstatt sich über mögliche und spätere Konsequenzen Gedanken zu machen. Nachdem der Knoten festgezogen ist, hält sie den Stein mit beiden Händen und wir sehen im Bild daneben ihren Oberkörper in fallenden und sich wieder aufrichtenden Bewegungen. Das Fallenlassen des Steins zögert sie hinaus und in diesem Moment des Haltens können wir mit ihr überlegen, was wir selbst fallen und gehen lassen möchten. Mit einem Ausatmen fällt der Stein herab und das schwarze Band entpuppt sich als Gummiband, welches den Stein zunächst in der Vertikalen wippen lässt. Wenig später hängen viele dieser Steine nebeneinander von einer circa drei Meter hohen Stange.

Ein wiederholtes Zwinkern der Performerin mit beiden Augen im Takt flackernder Geräusche, die an akustisch verstärkte Flügelschläge von Insekten erinnern, leitet einen Stimmungswandel ein. Eine schnellere Bewegungsqualität als bisher übernimmt die Führung ihres Körpers und die pointierten Bewegungen, die in zeitliche Intervalle gegliedert sind, wirken fast wie eine Art Verpuppung. Die herabhängenden Steine werden, nun von einer Dringlichkeit ergriffen, von der Performerin der Reihe nach angestoßen und kommen so auch ins horizontale Pendeln. Wie ein aus den Fugen geratendes Newtonpendel wirkt diese übergroße Installation. Ein nicht nur potentielles, sondern reales Risiko des Zusammenstoßens der Steine untereinander oder aber mit dem Körper der Performerin, wird deutlich sicht- und hörbar. Doch Simone Gisela Weber, die mit Julia Keren Turbahn gemeinsam Konzept und Choreografie entwickelte, übernimmt mit der nächsten Kameraeinstellung wieder klar die Kontrolle über Steine und Geschehen. Als Nahaufnahme sehen wir ihre Hand kraftvoll einen der Steine auf den Boden packen. Mit dieser Geste beginnt ein neues Kapitel, in dem sie die Backsteine in verschiedenen Formationen stapelt und arrangiert. Zwischen Kontrolle und Ausbruch changieren diese Szenen und die nunmehr melodischen, elektronischen Klänge unterstützen dieses potentielle Spektrum der Möglichkeiten der Dinge.


„Hypothetic Bodies“ von Simone Gisela Weber und Julia Keren Turbahn ist noch bis zum 26. September 2021 auf der Streaming-Plattform dringeblieben.de verfügbar und kann auch mit deutschsprachiger Audiodeskription geschaut werden: https://dringeblieben.de/videos/hypothetic-bodies.