„DAWN: A Musical on Reproduction“, Sheena McGrandles ©Michiel Keuper

Zärtliche Utopien spekulativer Fortpflanzung

Das queer-feministische Musical „DAWN: A Musical on Reproduction“ beschäftigt sich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit Fragen nach Mutter- und Elternschaft. Gemeinsam mit ihrem temporären Kollektiv spekuliert Sheena McGrandles darüber, wie wir das Konzept einer „natürlichen“ weiblichen Reproduktivität und heterosexuellen Elternschaft hinter uns lassen können.

Kann eine Mutter einen Penis haben? Kann ein Vater gebären und die Brust geben? Ist es egoistisch Kinder in die Welt zu setzen angesichts Überbevölkerung und Zerstörung des natürlichen Lebensraums – oder trage ich eine soziale und ökologische Verantwortung, dies nicht zu tun? Und welche Körper können und dürfen sich überhaupt fortpflanzen? Das Thema Mutterschaft öffnet sofort einen riesigen Raum für Fragen, kontroverse Debatten, Frustrationen und Irritationen.

Die Tänzerin und Choreografin Sheena McGrandles ist vor kurzem mit ihrer Frau Eltern geworden – es ist diese Erfahrung, die den Ausgangspunkt bildet für „DAWN: A Musical on Reproduction“, das sie gemeinsam mit einer diversen Gruppe von Performer*innen im Rahmen des von den Sophiensælen veranstalteten Festivals Coming of Age im Heizhaus der Uferstudios präsentiert. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mithilfe verschiedener Genres – Musical, Sprechtheater inklusive eines antiken Chors, Tanz und Performance – wird über all diese Widersprüchlichkeiten, Unsicherheiten, und sich wandelnde gesellschaftliche Normen spekuliert, die das Thema Mutter- bzw. Elternschaft aufwirft.

Das Musical beginnt mit Eos, Aurora, der Früherwachenden, also Dawn, der Morgenröte – mit der mythologischen Göttin des Sonnenaufganges und ihrer symbolischen Kraft der Erneuerung. Zwei miteinander balgenden Performer*innen (Claire Vivianne Sobottke und Moss Beynon Juckes) – vielleicht zwei ihrer zahllosen Kinder – schreien nach ihrer überforderten Mutter DAWN, personifiziert vom Komponisten und Performer Colin Self. Hin- und hergerissen zwischen Job und Kinderbetreuung stöhnt sie schwer unter ihrer körperlich zehrenden Arbeit, die Sonne jeden Morgen über den Horizont stemmen zu müssen – bis sie kollabiert. Der nörgelnde Kommentar der Kinder: „That’s not feminist to lay on the ground“ und „You can do it“.

Dies ist die erste von vielen Szenen, die sich in „DAWN“ aneinanderreihen. Jede für sich so dicht an Material und Anspielungen, dass es mehrere Stücke füllen könnte, ohne aber ein Gefühl der Übersättigung und Überforderung zu hinterlassen. Mal witzig-parodierend, mal ernst und nachdenklich, mal die Zuschauenden direkt ansprechend – wer hatte schon eine oder mehrere Abtreibungen? – führen uns die wunderschönen, selbstkomponierten Songs (deren Texte wir ausgehändigt bekommen) durch die unterschiedlichsten Facetten von Mutterschaft, Begierde, Sorge, Verantwortung und Reproduktion. Persönliche Geschichten – wie der ehrlich-berührende Monolog von Claire Vivianne Sobottke – werden verwoben mit rangelnden und spielenden Körpern, aber auch einem Moment der Selbstreflexion, in der sich die Show selbst in Frage stellt: „Wait a minute, wait a minute…“. Sind ihre Inszenierungen nur alte kitschige, langweilige Theatertricks, angereichert mit ein bisschen Queer-Theorie? Als ein Mini-Musical im Musical stellt sich hier in mir jetzt doch ein Moment der Erschöpfung ein.

Dem entgegen wirkt das reduzierte und assoziationsreiche Bühnenbild von Michiel Keuper und Martin Sieweke. Der blaue Teppich, der den zentralen Bühnenraum markiert, mutiert mal zum Pool, mal zum intrauterinen Fruchtwasser, mal zur Picknickdecke auf der getobt, gerangelt und verhandelt wird. Die beiden dreidimensionalen Boxen dienen mal als Rampe, Rutsche, Sprungbrett oder als gynäkologischer Stuhl.

Als Antagonist verkörpert der „Chor der Kinderlosen“ eine Art Opposition im Bühnengeschehen: Olympia Bukkakis, Marek Polgesek, Emeka Ene und Valerie Renay, die plappernd, snackend, witzelnd die Szenen kommentieren, gehören einer Metasphäre an, weder ganz auf der Seite der Diegese noch auf der Seite der Zuschauer*innen stehend. Als rituelles Kollektiv, in schwarze, plissierte Trauerkleidung gehüllt, verkündet der Chor die eindeutig gebärablehnende Botschaft: „Fuck the family. Fuck the house, fuck the system, fuck the procreation…“. Er ist dem Aussterben der Menschen gewidmet, dem Antinatalismus, einzig darauf hoffend, dass andere Lebewesen klüger im Einklang mit der Natur leben werden.

Als Colin Self in seinem wunderschönen Solo am Piano die Stimme wegbricht, kommen auch mir die Tränen: „Sometimes it feels I can barely take care of me.“ Die Musik, so zart, so aufrichtig wie das ganze Stück: „The world is on fire, and it hurts my heart to see.“ Ich folge dem schwarzbekleideten Chor der Kinderlosen, der die Ausrottung der Menschheit bevorzugt. Vorerst.

So oder so: Ob und wie jemand mütterlich und väterlich ist, sollte nicht mehr ausschließlich mit Zeugungs- oder Gebärfähigkeit verwechselt werden. Ein Vater kann auch eine Gebärmutter haben. Und eine Mutter einen Penis.


“DAWN: A Musical on Reproduction” von Sheena McGrandles war am 25./26. September 2021 im Heizhaus in den Uferstudios als Teil des von den Sophiensælen veranstalteten Festivals Coming of Age zu sehen. Das Festival läuft noch bis zum 7. November 2021. Mehr Informationen und das Programm finden sich hier.