„F“ & „G“, Jeremy Nelson & Luis Lara Malvacías © Theo Cotes

Mit der Zeit tanzen

Bühnentänzer*innen über Vierzig gehören im Allgemeinen, pardon, zum alten Eisen. Dass das Tanzen jenseits der magischen Altersgrenze eine Anti-Aging-Strategie sein kann, zeigten Jeremy Nelson und Luis Lara Malvacías vergangenes Wochenende bei ihrem Showing „F” & „G” im Radialsystem

Es ist bereits der dritte Sommer, in dem Jeremy Nelson und Luis Lara Malvacías/ 3RD CLASS CITIZEN ans Radialsystem kommen, um als Gäste von Sasha Waltz in einem Studio-Showing ihre Arbeit zu präsentieren. Beide Choreografen haben die magische Altersgrenze ihres Berufes bereits überschritten — Nelsons Karriere begann 1984 in New York. Dort arbeitet seit 1994 auch Malvacías, u.a. zehn Jahre lang für Nelson. Mit ihrem 2OLDMENPROJECT haben die beiden Choreografen und Tänzer seit 2016 einen Weg gefunden, kreative Körper-Prozesse ihren vermeintlichen Verfallsdaten zu entziehen. Im Rahmen ihrer Reihe From A to Z entwickeln sie strukturierte Improvisationsduette, mit denen sie auf Buchstaben des Alphabets referieren. Eine Methode, die trotz oder gerade aufgrund ihres „Rollstuhl-Alters“ (Jeremy Nelson) einwandfrei funktioniert.

Luis Lara Malvacías und Jeremy Nelson sitzen im Schneidersitz auf dem Boden des Studio 5 und lassen die Ellbogen kreisen. Nach einer Weile hört man, dass ihre Übungen einer Sprachansage aus dem Smartphone folgen. Das digitale Allroundtalent dient den beiden Tänzern später als Stoppuhr und wird den Zeitablauf des Abends ganz wesentlich bestimmen. In kurzen und klar strukturierten Sequenzen präsentieren Malvacías und Nelson im vorderen Teil des Studios unter dem Motto „F”, wie „Field”, ihre Arbeitsweise. Als roter Faden für das von ihnen gesteckte Improvisations- und Austauschformat dienen ein Beistelltisch und zwei Hocker. Abwechselnd und mit großer Aufmerksamkeit legen sie mehrere Runden lang jeweils drei Karten auf den Tisch und leiten so in den Prozess ein, den sie gleich darauf verfolgen werden. Zunächst improvisiert Nelson innerhalb eines festgesteckten Zeitrahmens und Malvacías beobachtet ihn dabei. Jede Bewegung, jede Überleitung in die nächste Phrase resultiert dabei aus einem innerlichen Abscannen des körperlichen Ist-Zustands. Nelsons Durchlässigkeit in Händen und Armen ist bemerkenswert. Nach einem kurzen Feedback am Tisch folgt ein Improvisations-Solo von Malvacías. Vor jeder neuen Sequenz, die er mit einem klaren Anfang und Ende versieht, macht er eine längere Pause. So tastet er sich nach und nach an einen Tanz heran, den er selbst noch nicht kennt. Jener gewinnt besonders zum Ende dieser kleinen Live-Performance an Dynamik und Überzeugungskraft. Mit Abwesenheitsblick und in exaltierter Verdrehung des Torsos fächert Malvacías seine Hände auf. Der Mann mit den stufig geschnittenen schwarzen Haaren erinnert an einen Flamencotänzer; in seiner Androgynität und Zerbrechlichkeit aber auch an jene dem Transformativen unterliegende Kunstfigur wie sie einst Kazu Ohno geschaffen hat. Nach einem weiteren Feedback-Gespräch am Tisch, dessen Sprachfluss wie nach abgelaufener innerer oder äußerer Zeit (?) abrupt endet, folgt eine Improvisation zu zweit sowie eine kurze Erklärung zum Projekt ans Publikum.

Der zweite Teil des Improvisationsabends, das gehört zum Konzept der Reihe From A to Z, findet als Aufführung eines Live-Duettes im hinteren Teil des Studios statt. Titelgebend ist hier der Buchstabe „G” wie „Ground”. Ein weißes Papierquadrat auf dem Boden sowie von der Decke hängende, weiße Seile markieren die Tanzfläche für Nelson und Malvacías Performance. Zimmerpflanzen und unterschiedliche Lampen säumen deren Ränder. Das gesamte Setting unterliegt, wie auch schon der Aufbau des Improvisations- und Feedbackformats, einer cleanen ästhetischen Ordnung. Die Objekte, die im zweiten Teil dazukommen, sollen, so Malvacías, den Verlauf der Zeit unterbrechen und neue Herausforderungen für die Tänzer schaffen. So auch der Sound von Ivo Bol. Während Nelson und Malvacías mit Cyberstirnreifen im Schein zweier Kaltlichtlampen das Publikum nach Informationen bzw. Impulsen abscannen, wird akustisch eine digitale Suchlauffrequenz etabliert. Eine Art Internet-Einwahl-Rauschen aus Modemzeiten wird von entsprechenden Web-Tönen, kurzen Sprach- und Soundsequenzen durchbrochen. Was das Smartphone im ersten Teil des Abends bereits einleitete, wird hier als Verweis auf eine zugleich lineare wie parallele Zeitlichkeit deutlich und spiegelt damit ein Stück Zeitgeist wieder. Ein paar Warmlichtlampen in Kugelform sowie plattenspielerknisternde Klaviermusik öffnen Zeitfenster in die Vergangenheit und rahmen die Bewegungen der beiden Tänzer mit anderen Bedeutungen. Der permanente Wechsel, mit jedem neuen Sound entsteht eine neue Bewegungssequenz, scheint Nelson und Malvacías nichts auszumachen. Sie improvisieren sich durch die Zeiten als wären sie in jeder einmal zuhause gewesen. Doch das ist vielleicht nur eine Illusion und zugleich das Geheimnis ihrer tänzerischen Anti-Aging-Strategie: Die Zeit verändert sich, und sie tanzen mit ihr mit. Ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit jedoch besteht darin, dass sie in jedem Augenblick ganz bei sich bleiben.

Nelson und Malvacías, so verraten sie dem Publikum, haben es sich zur Aufgabe gemacht, Neues zu begreifen sowie Bekanntes wiederzuerkennen und loszulassen. Wenn Malvacías am Ende der Performance jauchzend in knallpinken Hotpants mit einer neonfarbenen Plastikblume über die Bühne springt, dann gibt das einmal mehr Grund, an Kazuo Ohno zu denken — mit einem großen Augenzwinkern auf das Leben mit all seiner Vergänglichkeit … und transformativen Kraft.