“Virtual S*Exploration”, Jakob* & Schleiff ©Eleonora Gelmetti

Mein Körper, meine Wahl

Mit Technik und VR thematisiert Jakob* und Christo Schleiffs Produktion „Virtual S*Exploration“ (für Menschen ab 14) Fragen der Sexualität. Die Premiere fand am 15. April 2023 im FELD Theater für junges Publikum statt, weitere Vorstellung laufen bis zum 18. April.

Was ist Sex? 

Was ist peinlich? 

Was ist normal? 

Ich bewege mich mit meinem sperrigen Headset und zwei Handhelds durch eine VR-Welt und lese diese Fragen an der Wand eines Gewölbes. Virtuell scheine ich zu schweben. Ich sehe grüne Pfade und kleine, unterschiedlich geformte Kuppeln. Babyrosafarbene, transparente Quallen und amöbenähnliche Kreaturen lungern am Wegesrand. Ich höre Stimmen, wenn ich an ihnen vorbeitreibe, Antworten auf die oben genannten Fragen. Ich muss mich entscheiden: Bleibe ich und höre zu? Oder ziehe ich weiter. Man sagte mir eingangs, dass es auf dieser Route um Sexualität und Liebe geht.

Ich bewege mich durch die im Raum fließenden Geschöpfe und vernehme Worte: „Beim Sex geht es um Penetration. Und um Selbstbefreiung.“ „Sexuelle Gefühle empfinden ist bereits Sex. Ich kann mit meinen Händen meinen Körper erkunden.“ „Wir müssen kommunizieren. Das ist wichtig. Mit meiner Freundin lernte ich, über meine sexuellen Präferenzen zu reden. Sie war älter als ich. Sie fragte mich, ob mir dieses oder jenes gefiele. Beim Sex. Es war eine positive Erfahrung für uns beide.“ „Erwarte nicht einfach, dass der/die andere weiß, was du magst. Frage danach. Frag einfach: ‚Hey, darf ich dich umarmen?‘ Lautet die Antwort ‚Nein‘, dann umarme nicht.“ „Wenn die andere Person nicht einwilligt, ist es Gewalt.“ … (Das sind keine wörtlichen Zitate.)

Meine VR-Runde findet abrupt ihr Ende, als ich aufgefordert werde, das Headset abzusetzen und mich der nächsten Aktivität zu widmen. Jede der drei Gruppen, in die wir, das Publikum, aufgeteilt wurden, hat 20 Minuten pro Station. Ich folge der Anweisung, bedauere jedoch, dass mir für die Erkundung der VR-Welt nicht noch mehr Zeit bleibt. Ich habe den Eindruck, dass sie sehr aufwändig produziert wurde und frage mich, ob es in ihr tatsächlich um Sexualität und Liebe geht. Ist Sexualität das gleiche wie Liebe? Ich empfand diesen Stopp eher als Auseinandersetzung mit einer emotional und physisch gesunden sexuellen Beziehung mit anderen und mir selbst. Ich entscheide! So lautet jedenfalls die Lektion, die sich mir vermittelt. 

Nun sitzen wir sieben aus meiner Gruppe eng beieinander an der nächsten Station, bei gedimmtem roten Licht in einem gemütlichen Zelt. Eine*r der Moderierenden lädt uns ein, unser heutiges Körpergefühl und unsere Empfindungen an diesem Tag zu reflektieren. Wir tragen Kopfhörer und hören eine Stimme. Sie liest uns einen Brief vor, dessen Autorin sich bei ihrem Körper dafür entschuldigt, dass sie den Erwartungen und dem Druck der Anderen in Bezug auf ihre Physis und ihre Sexualität nachgab. Sie wollte, dass die anderen sie mochten. Das sei ihr Grund gewesen, erklärt sie. Deshalb versuchte sie, den gesellschaftlichen Konventionen der „Attraktivität“ zu folgen. Sie hätte den Schmerz beim Sex akzeptiert und die Wünsche und Bedürfnisse ihres Körpers ignoriert, sagt sie. Doch nun wolle sie sich mit ihrem Körper versöhnen. 

Nach der Verlesung des Textes hält mich die Stimme an, einen Brief an mich selbst zu schreiben, einige Worte oder Sätze zum Verhältnis, dass ich heute und in Zukunft zu meinem Körper haben möchte. Es sei ein Brief nur für mich, versichert mir die Stimme. Ich könne ihn mitnehmen und dann vielleicht nach einem Jahr noch einmal lesen. Ich schreibe und erinnere mich dabei an meine Jugend, die Zeit als Teenager, als ich ein Opfer des sozialen Drucks, des Attitüde meiner peer group und dem Bombardement der medial vermittelten Schönheitsnormen war. Ich frage mich, ob es mir geholfen hätte, mich vom gesellschaftlichen Diktat der Homogenisierung zu befreien und nach wahrer physischer Lust zu streben, hätte mir eine Stimme diese Schreibübung schon damals aufgetragen. Hätte ich das Bewusstsein und die Kraft besessen, mich gegen die bizarren und erstickenden Werte der kapitalistischen Gesellschaft aufzulehnen?

An der letzten, blau ausgeleuchteten Station gibt es iPads und Headsets. Die Teilnehmenden sollen Fragen beantworten. Zunächst werde ich aufgefordert, an eine peinliche Situation zu denken. Dann soll ich mich an Details dieser Situation erinnern. Gesucht wird eine Bezeichnung oder ein Songtitel für dieses Erlebnis. Ich notiere: „Falsche Richtung.“ Eine Stimme bittet mich, diesem Namen oder Titel einen Ort oder ein Tier zuzuordnen. Ich antworte: „Ein Pizza-essendes Eichhörnchen.“  Nun soll ich mein power item aufschreiben. Irgendetwas, das mir Mut und Kraft gibt. Ich tippe: „Meer und Bäume“. Auf dem nächsten Bildschirm heißt es: „Zeit für Memes!“ Ich soll einen Satz schreiben, der mit „Wenn du …“ beginnt. Beispielsweise: „Wenn du in eine Apotheke gehst, um Kondome zu kaufen, es dir aber schwerfällt, danach zu fragen.“ Ich sende meine Eintragung ab und darf anschließend zwischen drei Memes wählen. Ich entscheide mich für das Meme mit dem blauen Himmel, blauen Meer und seltsam geformten Bäumen am Horizont.

Überrascht nehme ich am Ende der Performance einen Umschlag mit meinem Meme und meinem „Wenn du …“-Satz in Empfang. Das Bild könnte ich mir anschauen, wenn „… ich mit jemandem sprechen muss, aber meine Freund*innen nicht frage, weil ich nicht aufdringlich scheinen mag.“ Vielleicht wird es mich erinnern, dass ich stark und mutig genug bin, um Hilfe zu erbitten. Ich kann es anschauen, wann immer mich Scham wegen meiner „Falsche[n] Richtung“ überkommt.  Es könnte mich ermutigen, nett zu mir zu sein.

Bevor wir das Theater verlassen, wird uns ein kurzer Moment der Reflektion über unsere Erfahrung gewährt. Wir erhalten ein Blatt Papier mit drei Fragen: Mit wem willst du über dieses Erlebnis reden? Was denkst du gerade? Was hältst du davon? Ich skizziere Antworten. Dann berühre ich mit meiner linken Hand meinen rechten Ellbogen und hoffe, dass ich künftig, wann auch immer ich diese Geste in meinen Alltag integriere, erinnere, dass ich ehrlich mit den Bedürfnissen und Wünschen meines Körpers umgehen will.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


„Virtual S*Exploration“ (für Menschen ab 14) von Jakob* & Schleiff wurde am 15. April 2023 im FELD Theater für junges Publikum uraufgeführt, weitere Vorstellungen bis zum 18. April 2023. Ticketreservierung unter jungesfeld.de.