„Cacti“, Alexander Ekman („EK | EKMAN“, Staatsballett Berlin, 2023) ©Yan Revazov

Lavieren durch die Dynamik der Macht

Zwei schwedische Choreografen, zwei Generationen in der Deutschen Oper: Mats Ek (Jahrgang 1945) und Alexander Ekman (Jahrgang 1984) teilen sich insgesamt sechs Abende, an denen das Staatsballett Berlin Eks „A Sort Of…“ und Ekmans „Cacti“ präsentiert. Die Premiere war am 16. Februar 2023, es folg(t)en zwei weitere Vorstellungen im Februar und drei im März.

„Gibt es einen schwedischen Tanzstil?“, fragt Christiane Theobald, die kommissarische Intendantin des Staatsballett Berlin Mats Ek im Interview für das Programmheft. Er wisse es nicht, antwortet dieser. Er hoffe es nicht, ergänzt er. Doch Spuren von Einflüssen würden ja gern mal konstatiert. Im Vergleich der beiden in Berlin inszenierten Choreografien erkenne ich tatsächlich Parallelen zwischen Ek und Ekman. Beide setzen bewusst auf zeitgenössischen Tanz, beide demonstrieren eine enge Beziehung zur Musik. Doch der Generationensprung zwischen den beiden Künstlern ist evident. Und das fasziniert mich am meisten.

Eks „A Sort Of…“ ist ein Spiel mit Geschlechterrollen, wobei ihm der Ausbruch aus dem Normativen nicht ganz gelingt. Vermutlich war sein Ansatz 1997 progressiv, als er die Produktion zum ersten Mal mit dem Nederlands Dans Theatre auf die Bühne brachte. Heute sehen wir jedoch eine Reinszenierung von 2023, und so will ich das Werk durch die Brille der Gegenwart betrachten.

„A Sort Of…“ beginnt mit einem Duett von Arshak Ghalumyan mit Bart im dunkelroten Kleid und Vivian Assal Koohnavard, die einen hellbraunen Anzug trägt. Ihr Pas de deux entfernt sich weit vom klassischen Ballett. Sie tanzen ein Vokabular, das ich als zeitgenössisch identifiziere. Am Ende wird Koohnavard in einen großen Koffer gestoßen und eingesperrt, und Ghalumyan schlendert, den Rollkoffer mit einer Hand ziehend, gemütlich von der Bühne. In diesem Moment hebt sich die Wand, die den Blick auf ein Dreiviertel des Raumes bisher verstellte, und offenbart die Welt, die sich hinter ihr verbarg.

In der Welt hinter der Wand entsprechen die Kostüme der Tanzenden traditioneller Gendernorm: Kleider für die Frauen, Anzüge für die Männer. Auch Ghalumyan und Koohnavard erscheinen bei ihrem zweiten Duett im geschlechterstereotyp „korrekten“ Dress. Mit Grand Jetés, in kreisender Bewegung, sich an den Händen haltend, performen sie nun auch eher traditionelles Ballettrepertoire. Unter den Tanzenden entdecke ich einen fast nackten Mann: Alexander Abdukarimov, trägt nichts als knallrote Boxershorts. Genderneutraler geht es nicht, denke ich. Doch die folgende Sequenz lässt mich gleich wieder zweifeln.

Denn nun erscheint  eine „Schwangere“ vor der Wand, eine Frau mit einem riesigen Kugelbauch, den sie vorsichtig stützt. Langsam geht sie auf einen großen Mann im schwarzen Anzug zu. Dieser kommt ihr entgegen. Als sie sich fast berühren, lässt er den Luftballon unter ihrem hellrosa Kleid platzen. Die Frau gleitet zu Boden, windet sich extatisch und robbt von der Bühne. Drei Männer in Anzügen tanzen kurz und unisono, bis Abdukarimov auftritt, mit einer großen Beule im Schritt. Ein anderer Tänzer lässt diesen Ballon platzen, und auch Abdukarimov schlängelt sich von der Bühne. Zuletzt tritt eine Tänzerin auf, im Kleid, mit Ballons auf der Höhe ihrer Brüste und ihres Pos. Auch sie werden von einem Tänzer zum Platzen gebracht. Dieser Teil der Inszenierung behagt mir nicht. Vielleicht stehen die platzenden Luftballons als Metapher für die Demontage von Genderklischees. Doch die offensichtliche männliche Dominanz in dieser Szene – nur die Männer treffen hier Entscheidungen – und die Tatsache, dass die Tanzenden, deren Ballons zum Platzen gebracht werden, nicht bestimmen, was mit ihren Körpern geschieht, finde ich problematisch. 

Ekmans „Cacti“ wurde 2010 uraufgeführt, und Geschlechterrollen sind in dieser Produktion kein Thema. „Cacti“ ist faktisch gender-neutral und hierarchiefrei. Es geht nicht um das Individuum, sondern um kollektive Körper. In der ersten Szene spielen vier Streicher*innen live auf der Bühne. Dazu bewegt sich die Solistin Alizée Sicre. Sie bewegt sich sehr langsam. Der bei Beginn der Performance bereits offene Orchestergraben fährt hoch. Doch hebt er nicht Musizierende in unser Blickfeld, sondern 26 Tanzende, alle im gleichen Dress: Schwarze Badehauben bedecken ihre Haare, schwarze Overalls mit bis zur Taille heruntergerolltem Oberteil geben den Blick auf ihre Oberkörper frei. Unter den Overalls tragen sie hellbeige Unitards. Sicre schließt sich der Gruppe an, und nun interagieren 27 Tanzende mit den Musiker*innen. Gemeinsam weben sie einen Klangteppich. Ihr Vokabular erinnert an zeitgenössischen Tanz. Sie atmen, rufen, lachen, klatschen und produzieren Percussion-Sounds mit Schlägen auf den Boden oder ihre Körper. Alle und alles im Einklang.

Die vier Streicher*innen gehen ab, und die Tanzenden ziehen ihre elfenbeinfarbenen Podeste nun über die gesamte Breite der Bühne. Es folgt ein beeindruckendes Spiel aus Scheinwerferlicht, Musik, Körpern, Podesten, die hier und da zu Requisiten werden, und großen Kakteen, die die Tanzenden auf die Bühne bringen.

Während „A Sort Of…“ sich die Geschlechternormen vornimmt, attackiert „Cacti“ ein anderes Machtsystem. Immer wieder unterlegen Männerstimmen das Ballett. Sie rezitieren übertrieben intellektualisierte Interpretationen der „Cacti“, unüberhörbar jene verspottend, die versuchen, dem Werk eine Bedeutung anzudichten. So kommentieren sie beispielsweise: „Doch in diesem Opus lädt die Sixtinische Kapelle des Künstlers zur Utopie einer neuen Dekade. Sie kündet von einer Welt, in der wir nicht Tanzende oder Muszierende sind, sondern alle Mitglieder des menschlichen Orchesters.“ – Oder: „Was sahen wir? Was zeigte sich? Was bedeutet das? […] Sind es denn nicht die elfenbeinfarbenen Podeste, die den Herzschlag dieses Werks einfangen? Nein. Es sind die Kakteen. Sie pulsieren mit dem Subtext, der so subtil ist, dass wir ihn kaum wahrnehmen. Doch das geübte Auge sieht die Wahrheit, und die Kritik offenbart sich.“ – An anderer Stelle: „Was bedeutet das? Die geschlechtslosen, anonymen, parallelen Körper auf einer horizontalen Ebene stellen eindeutig das absolute Prinzip des Habens, der Menschen und der Erde dar.“

Für das Programmheft erklärt Ekman: „Cacti entstand in einer Phase meines Lebens, in der ich jedes Mal, wenn jemand über meine Arbeit schrieb, verwirrt und verärgert war. Ich fand es nicht fair, dass eine Person für alle entscheidet, worum es bei einem Werk geht. Ich lese keine Kritiken mehr. Doch dieses von Menschen geschaffene, ungerechte System hinterfrage ich nach wie vor.“ Ich verstehe Ekmans Frust und stimme ihm zu. Offenbar ist die Gesellschaft nicht in der Lage, sich von Strukturen zu verabschieden, die „unfair“ sind. Hier manifestiert sich vermutlich das Sicherheitsdenken der Herrschenden, deren Macht garantiert ist, solange niemand das Normative infrage stellt. Im Kontext einer Diskussion über Unausgewogenheit würde ich aber auch fragen wollen, warum Ekmann diese Texte nur von Männern sprechen lässt. Sollen die Stimmen mehr „Autorität“ haben? Doch warum halten wir daran fest, dass Männerstimmen Kraft und Stärke suggerieren? Warum sind überhaupt alle berühmten Choreografen, die ich in meiner Tanzausbildung kennenlernte, weiß und männlich? Und warum sehe ich jetzt schon wieder zwei Tanzproduktionen von weißen, männlichen Choreografen?  Wieso existiert das Ballett weiter als bourgeoise Kunstform, zu der nur die Mittel- und Oberschicht Zugang haben? Diese Fragen kommen mir in den Sinn, während ich zusammen mit dem begeistert applaudierenden Publikum die strahlenden Tanzenden feiere, die sich einmal, zweimal, immer wieder verbeugen, und die ich für ihre unglaublichen physischen Fähigkeiten und ihre Disziplin bewundere.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


„EK | EKMAN“ – Choreographien von Mats Ek („A Sort Of…“) und Alexander Ekman („Cacti“) mit dem Staatsballett Berlin (Premiere: 16.02.2023, Deutsche Oper Berlin).

Weitere Vorstellungen: 12. März 2023 um 16:00 Uhr und 20:00 Uhr, 22. März 2023 um 19:30 Uhr in der Deutschen Oper Berlin. Tickets unter staatsballett-berlin.de. Am 12. März um 14:00 Uhr wird ein Familienworkshop in Verbindung mit dem anschließenden Besuch der Nachmittagsvorstellung angeboten, vorherige Anmeldung erbeten.