Was bedeutet es Held*in zu sein? Camilla Pölzer präsentiert mit „I NEED A HERO” eine Reise entlang der Erwartungen und Normen des Superheld*innencharakters. Das 50-minütige Stück für alle ab neun Jahren feierte am 22. Februar 2023 bei den TANZKOMPLIZEN im Podewil Premiere.
Auf der sonst leeren Bühne befindet sich ein Podest, umgeben von einem Gerüst aus Metallstangen. Darin sind weiße Stoffbahnen aufgespannt, die die Fläche für die Videoprojektion und Übertitelung des Stücks bilden (Bühnenbild: Pauline Heitmann, Projektion & Video: Declan Hurley). Dargestellt wird hier die Fassade eines imposant wirkenden Gebäudes, welches mich an einige Institutionen in Berlin erinnert. Eine fehlerfreie Anordnung von Fenstern: Symmetrie, Anonymität, Perfektion. Doch das Bild wird langsam verzerrt, die Projektion wabert. Auf einem Teil des Bühnenbilds erscheint die Frage: „Kann jede*r Superheld*in sein?“ Die Kinder im Publikum lesen den Satz laut vor und rufen anschließend: „Ja!“. Sie sind sich einig.
Choreografin und Tänzerin Camilla Pölzer tritt auf die Bühne, gekleidet in einen glänzenden, türkisen Overall (Kostümbild: Carlo Zeit). Sie zieht einen großen weißen Koffer hinter sich her. Im Gepäck hat sie ihr Bewerbungsschreiben für die Superheld*innenschule, aus dem sie vorliest: Sie ist 161 cm groß und hat blaue schulterlange Haare. Sie hat eine Körperbehinderung. Sie ist abenteuerlustig.
Ihre Freude darüber, dass sie an der Superheld*innenschule angenommen wird, ist groß. Besonders, da sie von der „besten Superheld*in“, gespielt von Camilla Przystawski, trainiert wird. Wie in beliebten Hollywoodfilmen folgt eine Trainingssequenz. Mehrere Etappen meistert die Hauptfigur: Rennen, Springen, Boxtraining, Parcour, Kämpfen. Die Musik und Soundeffekte verleihen dem Ganzen ein Computerspielambiente (Musik: Jana Sotzko). Immer wieder, wenn Erschöpfung und Müdigkeit aufkommen, spricht sie das Mantra „Niemals Schwäche zeigen!“ vor sich hin. Die Trainerin bläst mehrmals in eine Trillerpfeife: schneller, höher, besser. Aber niemals müde werden. Das kompromisslose Durchhaltevermögen scheint sich zu lohnen. Jede Etappe wird erfolgreich bestanden, die Schülerin wird mit einem neongelben Cape zur Superheldin gekürt und prompt auf ihre erste Mission geschickt. Transportiert in eine ferne Galaxie kämpft sie gegen unsichtbare Gefahren und wendet alles an, was sie in der Superheld*innenausbildung gelernt hat.
Plötzlich, mit einem lauten „STOPP!“, werden wir aus der Fantasiewelt gerissen. „Ich kann nicht mehr.“ Mürrisch murmelnd (so lese ich es in der Übertitelung) legt sie das unpraktische Cape ab, was sich ständig unter ihren Füßen verhedderte oder um ihren Hals schnürte. Sie baut sich aus einigen Bühnenelementen ein Bett. Meine Schultern senken sich, eine vorher unbemerkbare Anspannung löst sich. Es wird ein Moment gezeigt, der in allen Held*innengeschichten und -filmen fehlt: Erschöpfung, Schwäche und Erholung. Die Fragen, denen Camilla Pölzer in „I NEED A HERO“ nachgeht, sind in diesem Moment beinah mit den Händen zu greifen. Wie kann heutzutage eine Held*innensage erzählt werden? Wie sieht die Reise einer Heldin mit Behinderung aus? Wie kann man diese Geschichten wiedergeben ohne, wie es so oft passiert, behinderte Menschen schon allein aufgrund ihrer Behinderung als Held*innen zu glorifizieren? Die Held*innenreise steht hier an einer Weggabelung und entscheidet sich, statt für den Kanon der Einzelkämpfer*in, für den Weg der gegenseitigen Unterstützung. Die beiden Tänzerinnen kommen in Kontakt, berühren und halten einander. Sie führen sich abwechselnd durch den Raum. Es entwickelt sich ein losgelöstes Spiel, ein freudiges miteinander Tanzen. Mit großen Armbewegungen sprühen die beiden Graffiti an die zu Beginn so imposant wirkende Hauswand. Diese abschließende Geste des Ungehorsams, des Vandalismus, lässt mich an das Zitat von Wissenschaftlerin und Schriftstellerin Sara Ahmed denken: „Das Infragestellen der dominanten Machtverhältnisse (..) wird als Vandalismus verstanden, als mutwillige Zerstörung des Schönen. Aber wenn Sie denken, dass es Vandalismus ist, Fragen darüber zu stellen, was und wie man unterrichtet, dann sollten Sie wissen, dass wir bereit sind, Vandalen zu sein.“
Das Stück nimmt die Kinder, die als Zuschauer*innen eingeladen werden, ernst. Verpackt in lustigen und actionreichen Szenen ist ein Diskurs auf Augenhöhe mit denen, die das Träumen vom Held*innensein noch in den Augen leuchtet. Daher überrascht es mich nicht, dass sich nach dem Stück eine Traube junger Mädchen um Camilla Pölzer sammelt, um Selfies mit ihr zu machen.
„I NEED A HERO“ von Camilla Pölzer (Uraufführung: 22.2.2023, ab 9 Jahren) ist noch am morgigen 25.2. um 16 Uhr bei den TANZKOMPLIZEN im Podewil zu sehen, Restkarten unter tanzkomplizen.de.
Im Anschluss an die Vorstellung findet ein Workshop für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt. Der Workshop richtet sich sowohl an sehende, als auch an blinde und sehbehinderte Personen. Vor dem Stück, um 15 Uhr, gibt es eine angeleitete Tastführung für die Teilnehmenden an der Audiodeskription. Alle Informationen unter making-a-difference-berlin.de.
Konzept, Choreografie, Tanz: Camilla Pölzer – Tanz, Choreografie: Camilla Przystawski – Co-Choreografie: Paulina Jürges, Johanna Jörns – Musik: Jana Sotzko – Projektion, Video: Declan Hurley – Kostümbild: Carlo Zeit – Bühnenbild: Pauline Heitmann – Dramaturgie: Amelie Mallmann, Lisa Sziedat – Produktionsleitung: Agnieszka Habraschka, Lisa Sziedat – Audiodeskription: Silja Korn, Emmilou Rößling – Vermittlung: Amelie Mallmann, Kira Shmyreva.