Bei “Op.131 : End/Dance” vom Choreografen Laurent Chétouane, das seine Premiere am 29. November im HAU 1 gefeiert hat, entstehen durch unermüdliche zirkuläre Bewegungen zahllose Kreise, die sich nicht schließen. So wie seine musikalische Begleitung, Beethovens Streichquartett Op. 131, benötigt auch der Tanz von Léonard Engel keine feste Einordnung in einer linearen Kulturgeschichte, um seinem Publikum Vergnügen zu bereiten.
Wieviele Variationen der körperlichen Existenz kann man in der Begrenzbarkeit der Zeit und des Raumes entdecken und für die Zuschauer*innen erfahrbar machen? Das ungefähr 50-minütige rastlose Drehen des Tänzers Léonard Engel um sich und die Bühne herum könnte man als eine sachliche Antwort auf diese Frage verstehen, wenn er tatsächlich einer Begrenzung ausgesetzt erscheinen würde. Oder eine Bemühung unternehmen würde, um tatsächliche oder semantische Grenzen aufzuheben. Doch sah er vom ersten Moment an unbekümmert aus in Hinsicht auf Abläufe und Ziele. Schon als er vor den Musikern auf der Bühne saß oder sich oft vor dem Ertönen und nach dem Schweigen der Musik bewegt hat. Bei und in jeder Drehung änderte sich sein Körperwinkel, sein Verhältnis zu seinem Balance-Zentrum und zur Schwerkraft. Der schnelle aber nicht immer fließende Wechsel zwischen freudigem Hüpfen und tapsigem Stolpern, tänzerischer Konzentration und kindlichem Trampeln, derwisch-ähnlichen Wirbeln und zielgerichtetem Rennen, Harmonie und Chaos wich jedem Deutungsversuch. Keine kausal zusammenhängende Bewegungsreihe, kein spirituelles Ritual, kein Forschungsobjekt war zu beobachten, an denen eine Intuition (Versenkung, Erweiterung, Zerstören durch Wiederholungen) festzumachen wäre. Nur ein Mann, der seinem Bewegungstrieb folgt und dabei glücklich erscheint.
“Wer glücklich ist, der darf keine Furcht haben. Auch nicht vor dem Tode. Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich.” sagt Wittgenstein. Zeit ist eine Konstruktion, Gegenwart nicht. Laut ihm gibt es für das Leben in der Gegenwart keinen Tod. Engels Einverständnis mit dem Moment rührt aber nicht von einer Verschmelzung mit ihm oder einer Auflösung in ihm (es gibt viele Brüche, Pausen, Unfälle), sondern von einer absoluten Akzeptanz seines Bewegungstriebs und seinem Horchen auf ihn. Vor allem am Anfang scheint es so, als ob sein locker schwebender Körper wie eine Marionette von dem eigenen Trieb bewegt wird. Er bestimmt, wann er stoppt, wann er der Musik folgt und wann er eigenständig tanzt. Dieser Trieb ist keine höhere Macht außerhalb von ihm, er ist das Vitale und das Freie in ihm, das ihn vor Resignation schützt. Nicht indem er den Tod verzögert, sondern annimmt, dass die Bewegung im Leben immer eine Bewegung Richtung Tod ist und Tod nicht Stillstand heißt.
In diesem Sinne ist das Stück eine Weiterverfolgung, eine Intensivierung von Chétouanes Interesse an Bewegungen ohne Definitionsmacht von vorbestimmten Anfängen und Enden. Auch seine musikalische Entscheidung macht das deutlich. Beethovens letztes Streichquartett, das live auf der Bühne gespielt wird, zitiert eine Melodie aus dem ersten Satz im Finale, was zu seiner Zeit sehr ungewöhnlich war. Trotz diesem zirkulären Verständnis von Zeit und Kunst lässt sein abruptes und offenes Ende keinen Kreis schließen. Eine Vielfalt an Gefühlen, von tiefer Melancholie zu kindlicher Leichtigkeit, sind in dem Quartett zu hören. In einer unerwarteten Reihenfolge, unberechenbar, ohne klare Trennungen und endgültige Aussagen. Wie bei dem Tanz, ist die Unmöglichkeit einer Voreingenommenheit ein Vergnügen, solange die Vergänglichkeit nicht dem Löschen des Lebens gleichgesetzt wird.
Der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler, der sich viel mit der Todestrieb-Theorie von Freud beschäftigt hat, sagt, dass Tod keine Folgeerscheinung des Lebens oder einer Lebenssubstanz ist, die aufgezehrt wird. “Vielmehr ist er für das Leben notwendig; ohne Tod gibt es kein Leben. (…) Die Hauptsache ist der Nachweis, dass der Tod dem Organismus nicht gleichsam gegen seinen Willen aufgezwungen wird, sondern dass der Vorgang des Lebens in sich (nicht gegen sich) und gerade, indem er sich vollendet, den Tod hervorbringt.” In dem Pressetext des Stücks ist davon die Rede, das Ende unserer Lebensweisen selbst herbeizuführen, damit Neues entsteht. Die Negierung oder Verzögerung des Endes erschwert das Aufgeben linearer Erzählungen in der Kunst. In seiner Freiheit von diskursbestimmenden Theorien kann man die ganze Karriere von Chétouane als eine Bewegung Richtung eines unvorhersehbaren Endes sehen. “Op.131 : End/Dance” komprimiert diesen Ansatz in einer einzigen Bewegung mit endlosen Varianten und nennt sie beim Namen.